Open Mike im Heimathafen: Weiblich, körperlich, fleischig
Der Open Mike ist für Autor*innen die Chance, einen Fuß in die Tür der Literaturszene zu bekommen. Dieses Jahr ist der Wettbewerb diverser geworden.
Der Heimathafen Neukölln in Berlin am vergangenen Wochenende: Eine Bühne, hohe Decken, Scheinwerferlicht. Im Publikum Verleger*innen, Lektor*innen, Literaturinteressierte – meist solche, die auch selbst schreiben. Auf der Bühne stehen in diesem Jahr überwiegend junge Frauen, die ordentlich abkotzen. Imaginäre Hähnchenknochen fliegen durch den Raum.
Viele Texte der 20 Finalist*innen des diesjährigen 26. Open Mike sind gewagt. Jeweils 15 Minuten trägt jede*r von ihnen aus Lyrik- und Prosastücken vor. Sechs Lektor*innen unterschiedlicher Verlage haben sich seit dem Sommer durch die etwa 500 eingereichten und anonymisierten Manuskripte gewälzt, um die 20 Wettbewerbstexte auszuwählen; ohne zu wissen, ob hinter den Stücken bereits mehrfach preisgekrönte Nachwuchstalente steckten oder absolute Newcomer.
In der Jury sitzen mit Katja Lange-Müller, Steffen Popp und Lucy Fricke Autorinnen und Autoren, die längst zu den Großen des Betriebs zählen. Fricke war 2005 selbst Open-Mike-Gewinnerin – bei dem 1993 ins Leben gerufenen Wettbewerb zu lesen bedeutet eben auch, einen Fuß in die Tür der Literaturszene zu bekommen.
Bei der diesjährigen Ausgabe ist Lust auf Neues, auf Veränderung spürbar – der Spalt hat sich noch ein bisschen weiter geöffnet. So ist es das erste Jahr, in dem mehr Frauen als Männer ins Scheinwerferlicht treten: 12 zu 8. Und auch das erste Mal, dass drei Lyrikstücke einen Preis bekommen.
Die „Ballade von Schloss Blutenburg“
Die Preisträger*innen sind Lara Rüter, Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig (DLL), der Münchner Kunstpädagogikstudent Kyrill Constantinides Tank und Yade Yasemin Önder, ebenfalls vom DLL, in der Kategorie Prosa. Außerdem wird die Autorin Caren Jeß für ihre „Ballade von Schloss Blutenburg“ mit dem taz-Publikumspreis ausgezeichnet.
„Wir wollten’s weiblich, körperlich und fleischig“, erklärt Holger Kaltofen, einer der vier taz-Juror*innen, die Entscheidung für Jeß. Bereits zum elften Mal konnten taz-Leser*innen sich für die Teilnahme an der Jury bewerben. Kaltofen erzählt, dass er sich in seiner Rolle nicht weniger wichtig als die „Profi-Jury“ gefühlt habe. „Wir sind eben ein professionelles Publikum. Und es hat Spaß gemacht, zwei Tage lang so intensiv über Literatur zu diskutieren.“
Die gesamte „Ballade von Schloss Blutenburg“, in der Jogger in glänzenden Leggins durch einen sumpfigen Tümpel waten, Jungfern ihr Menstruationsblut entsorgen und aufgedunsene Pommes sich nicht im Magensaft zersetzen, wird – so ist es Tradition – Ende des Jahres in der taz abgedruckt.
Nach der Preisverleihung erklärt Jeß im Gespräch, ihr sei es beim Schreiben darum gegangen, „stabile subjektive Weiblichkeit zu exponieren. Ich freue mich, dass die Message bei all dem Absurden und Albernen in der Ballade noch rüberkam.“ Der Open Mike wurde aber nicht nur weiblicher, sondern auch diverser.
Nur vier der Finalist*innen haben einen Abschluss von einer der renommierten Schreibschulen in Leipzig oder Hildesheim in der Tasche, das war in den vergangenen Jahren anders. Umso besonderer, dass sich in diesem Jahr eine Medizinerin, ein promovierter Archäologe und eine Astrophysikerin unter den Finalist*innen fanden.
Nüchtern rotziges Stakkato
Mit Rebekka Greifenberg gab es auch eine Autorin, die zum ersten Mal überhaupt einen Text einreichte und sogleich auf einer der wichtigsten Bühnen für junge deutschsprachige Literatur Platz nahm. „Ich wünsche euch viel Spaß und mir, dass ich nicht vom Stuhl falle“, sagt sie, und los geht’s mit einer nüchternen rotzigen Sprache und stakkatoartig aneinandergeknallten Sätzen, die zusammen einen extrem witzigen Plot ergeben.
So gibt die Protagonistin zum Beispiel zu, dass sie nur in die Schaubühne gehen würde, um den Penis von Lars Eidinger zu sehen. Das unterscheide sie von den ganzen intellektuellen Frührentnern.
Insgesamt sieht Kristine Kress, eine der beteiligten Lektor*innen, in einer gewissen „Welthaltigkeit“ und dem Blick für gesellschaftliche und politische Themen die Gemeinsamkeit der Texte des diesjährigen Open Mike. „Die Welt wird komplexer, vielfältiger und hoffentlich auch ein bisschen gerechter. Das spiegelt sich in der Literatur.“ Kaltofen aus der taz-Publikumsjury vermisst jedoch die Realität der Arbeitswelt in der Literaturlandschaft.
Es gehe immer noch hauptsächlich um die Hirnwindungen einer akademischen Mittelschicht. „In den 60ern hat man in der DDR versucht, die arbeitende Bevölkerung zum Schreiben zu bringen. Dabei ist zwar literarisch wenig Überzeugendes rumgekommen, aber dennoch ist es wichtig, diese Realität im Blick zu behalten.“
Den vier Preisträger*innen stehen nun Lesereisen in Frankfurt, Wien und Bern bevor. Was die Lektor*innen ihnen mit auf den Weg geben: Beharrlichkeit. Das Schlusswort von Kristine Kress: „Die Umstände in der Literatur waren schon immer schlecht. Aber ihr macht das schon.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin