Griechischer Doku-Film „Kaliarda“: Der Code der schwulen Subkultur

Die Dokumentation „Kaliarda“ von Regisseurin Paola Revenioti gibt Einblick in die Verständigung queerer Griechen in früheren Zeiten.

Zwei Frauen sitzen an einem Tisch

Das Interesse an der eigenen queeren Geschichte wächst. Filmstill aus „Kaliarda“ Foto: Inter­nationales Filmfestival Thessaloniki

Die Zeiten ändern sich langsam auch in Griechenland. Im von der orthodoxen Kirche noch immer stark geprägten Thessaloniki, der Hafenstadt im nördlichen Zentralmakedonien, mit rund 325.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt nach Athen, fand gerade die 59. Ausgabe des Internationalen Filmfestivals statt. Dank der neuen Leitung unter Orestis Andreadakis und Yorgos Krassakopoulos und engagierter Kuratoren wurde nicht nur zum ersten Mal ein queerer Filmpreis, der Mermaid Award, verliehen, sondern es gab darüber hinaus auch eine aufsehenerregende Retrospektive über griechische Queerfilme von 1967 bis heute.

Viele der gezeigten Beiträge, oft noch zur Zeit der Militärdiktatur unter widrigen Umständen entstanden, waren selbst in Griechenland oft seit Jahrzehnten nicht zu sehen. Einer der thematisch interessantesten Filme der Sektion war die Dokumentation „Kaliarda“ von Paola Revenioti über die gleichnamige Geheimsprache der Schwulen und Transsexuellen in ­Griechenland.

Für die Transaktivistin und ehemalige Prostituierte war es keine Frage, einen Dokumentarfilm über den vom Aussterben bedrohten Slang zu machen. „Ich fühlte mich geradezu verpflichtet dazu, weil es sonst niemanden gab, der diesen Film hätte machen können. Und ich hatte den Eindruck, dass sich die jüngere Generation nicht für die Vergangenheit interessierte.“ Mit ihren alten Weggefährt_innen spricht sie noch heute Kaliarda und kennt durch ihre jahrelange Arbeit die relevanten Zeitzeugen.

Die Sprache entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde zum Teil auch von Klienten und anderen Personen der Unterwelt verstanden und gesprochen, wie der junge Linguistik­wissenschaftler Eugene Tsakos betont. Er nennt Kaliarda einen „Kryptolekt“, also einen codierten Dialekt, den nur Eingeweihte entschlüsseln können. Das Wort selbst bedeute „hässliche, vulgäre Wörter“. Es ist, das wird im Film und in den Gesprächen mit Tsakos und Revenioti deutlich, kein in sich geschlossenes Sprachsystem mit eigener Grammatik, sondern ein Vokabular von rund 6.000 Begriffen, die nur einer Minderheit zugänglich waren. Diese konnte damit auch in einer feindlich gesinnten Öffentlichkeit Informationen austauschen, ohne befürchten zu müssen, von Autoritäten wie Staat, Polizei und Kirche oder von der meist homophoben Mehrheit verstanden zu werden.

Die am meisten verwendeten Wörter sind dabei Bezeichnungen aus dem Bereich sexueller Kontakte, etwa „tsoli“ für einen aktiven Heterotypen, der Sex mit Transen oder passiven Schwulen sucht, ob er „latso“ (gut) oder „koulo“ (gefährlich) ist. Es gibt Begriffe für Diebe unter den Klienten („tzournevei“) ebenso wie für Polizei („rouna“).

Also gingen die Männer zu denen, die außerhalb der Moral standen

Wie der Dichter George La Nonce erklärt, hatte Kaliarda zwei Funktionen: Es ging darum, sich gegenseitig zu erkennen und zu verständigen und gleichzeitig das feindlich gesinnte Umfeld auszuschließen. Sie wurde von sexuellen Minderheiten gesprochen, die sich dadurch ihrer gegenseitigen Zugehörigkeit versicherten. An öffentlichen Orten wie Parks und Klappen, wo sich in Zeiten lange vor Dating-Apps und Internet ein Großteil des queeren Lebens abspielte, war so schnell klar, wer ein sicherer Kontakt war. Und gleichzeitig konnten alle, die des Codes mächtig waren, im Vertrauen über die anderen reden, die nicht dazugehörten.

Das Erstaunliche ist, dass es neben all den Restriktionen und Verfolgungen sexueller Minderheiten durch Staat, Polizei und Kirche auch offensichtlich einen erstaunlich lässigen Umgang zwischen den Minderheiten auf der einen und zumindest öffentlich hetero lebenden Männern auf der anderen Seite gab. „In der Generation der heute über 50-, 60-jährigen Männer, die sich als straight identifizieren, hatte fast jeder seine erste sexuelle Erfahrung non-hetero“, behauptet Revenioti. Die strikte Sexualmoral galt auch und vor allem für Frauen, Geschlechtsverkehr vor der Ehe war Tabu. Also gingen die Männer zu denen, die außerhalb der Moral standen. Schwule, Stricher, Transen.

Abwandlungen aus vielen Sprachen

Anders als die in Großbritannien von Homosexuellen, Theaterleuten und Schaustellern vor allem in den 1940er und 1950er Jahren verwendete Geheimsprache Polari, die auf einem Mix aus italienischen Begriffen und Cockney-Slang basierte, sind Wörter in Kaliarda, wenn sie nicht gleich von einzelnen Personen frei erfunden und nur im engsten Freundeskreis verwendet wurden, Abwandlungen aus einer Vielzahl von Sprachen, vor allem aber aus dem Romani. Tsakos sieht das in der gemeinsamen Erfahrung der Homosexuellen und Roma als sozial marginalisierte Gruppen begründet.

Paola Revenioti ist selbst eine wichtige Figur der frühen LGBT-Bewegung, brachte in den achtziger Jahren das trans-anarchistische Fanzine Kraximo heraus und organisierte 1992 die erste CSD-Parade in Athen. Es ist also durchaus gerechtfertigt, dass sie als Protagonistin und Interviewerin immer wieder in ihrem eigenen Film auftaucht. Sie spricht mit Schriftstellern wie Thanasis Skroubelos, der die Wurzeln von Kaliarda in der Kommunikation von Gefängnisinsassen sieht, die damit verhindern wollten, dass die Aufseher mitbekommen, worüber sie sprechen. Aber er macht auch deutlich, dass es sich dabei um keine einheitliche Sprache handelte, sondern es in jeder Community und vom sozialen Status abhängig Unterschiede gab.

Es kommen auch Linguisten zu Wort wie Kostas Kanakis, der Kaliarda als „Antisprache“ definiert, die bewusst ausschließt, oder Szenegrößen wie Herakles Doukas, Betreiber der legendären Bar Banal, und Transfrauen wie Nana, die Revenioti noch als Mann vom Militär kennt und bis heute viele dieser Begriffe ganz selbstverständlich verwendet. So entsteht ein schillerndes Bild einer Undergroundszene, die sich vor allem zur Zeit der Militärdiktatur bis 1974, aber auch noch lange danach gegen Schikanen zur Wehr setzen musste. Und eine ihrer stärksten Waffen war die verbale.

Von den Achtzigern an haben manche Begriffe Eingang in die Popkultur gefunden, wurden im griechischen TV in Sitcoms und Satiresendungen ebenso verwendet wie in Klatschkolumnen, auch die nichthomosexuelle Umgangssprache hat einige Slangwörter absorbiert, inzwischen ist sogar ein Sprachlexikon mit den wichtigsten Begriffen veröffentlicht.

Wie es so oft mit subkulturellen Phänomenen geschieht, bedeuten gesellschaftliche Akzeptanz und kommerzielle Aneignung oft deren Tod. Durch das Ankommen der LBGTQI-Community im Mainstream stirbt der Sprachcode als solcher aus, weil er als Mittel des Zusammenhalts und der Abschottung an Bedeutung verliert. Paola Revenioti bedauert nicht nur das, sondern auch die allgemeine Assimilation. „Früher haben sie dich angespuckt und beschimpft, aber danach wollten sie mit dir vögeln. Heute sind wir ihnen einfach egal.“

Sie glaubt nicht daran, dass es eine Renaissance von Kaliarda geben wird, aber sie könnte sich irren. Die Vorstellung ihres Dokumentarfilms im Rahmen der Queer-Retro des Thessaloniki Filmfestivals war restlos ausverkauft. Und das Publikum in der Mehrzahl unter 30 Jahre alt, also zu einer Zeit geboren, als der Szenejargon bereits vom Verschwinden bedroht war. In der griechischen Queer-Community erwacht gerade ein Interesse an der eigenen Geschichte, vieles ist bislang, wenn überhaupt, nur mündliche Überlieferung, weil die Erfahrungen sexueller Außenseiter kaum Teil des offiziellen Kanons waren und nun aufwendig recherchiert werden müssen. Kaliarda, so viel ist klar, wird dabei eine wichtige Rolle spielen.

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