schlagloch
: Das Loyalitätsdilemma

Deutsche Linke sollten statt der Besatzungspolitik lieber die Meinungsfreiheit in Israel verteidigen. Und liberale Juden nicht zu Antisemiten erklären.

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Charlotte Wiedemann

ist freie Autorin und wurde mit ihren Reise­reportagen aus muslimischen Ländern bekannt. Im März 2017 erschien von ihr: „Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten“ (dtv).

Die Schlagloch-Vorschau:

20.11. Jagoda Marinić

27.11. Hilal Sezgin

4.12. Mathias Greffrath

11.12. Georg Seeßlen

18.12. Nora Bossong

2.01. Ilija Trojanow

Ein Gesetz, das „kulturelle Loyalität“ zum Staat verlangt und Theatern und Filmproduktionen andernfalls die Förderung entzieht? Diese Nachricht könnte aus dem Spukhaus Brasilien kommen oder aus der Türkei, doch sie kommt aus Israel. Die Knesset nahm vor wenigen Tagen ein entsprechendes Gesetz in erster Lesung an. Intendanten, Regisseure, Autoren protestierten, doch nicht in großer Zahl.

Viele bewundern Israel für seine diversity in Fragen von Lebensform und sexueller Orientierung. Doch die Buntheit hat eine Kehrseite: Der Raum für politisch abweichende Ansichten ist unter der Regierung von Benjamin Netanjahu stetig geschrumpft; kritische Stimmen wurden marginalisiert oder üben sich in Selbstzensur.

Ist das allein Israels innere Angelegenheit? Nicht ganz. Denn die Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Ausweitung der Besatzungspolitik stehen in einem direkten Zusammenhang. Ich konnte mir kürzlich im Westjor­danland ein Bild davon machen. Das ausgefeilte System von Siedlungen, Sicherheitszonen, Checkpoints und militärischer Landnahme erweckt den Eindruck, hier habe sich Aneignung verewigt. Und so soll es ja auch sein; junge Israeli wissen heute kaum mehr, wo der Rest der Welt die legitimen Grenzen des Landes verortet.

Eine zweite, zunächst ganz andere Beobachtung: Auf den elffachen Mord an Juden in Pittsburgh reagierte die israelische Führung merklich milde. 2015, als der islamistische Anschlag in Paris vier jüdische Opfer forderte, legte Netanjahu den französischen Juden nahe, nach Israel zu emigrieren. Nun beschwichtigte sein Diaspora-Minister Naftalie Bennett in den USA die Ängste: Die antisemitische Bedrohung werde überschätzt, und schon gar nicht dürfe man Trump für irgendetwas verantwortlich machen. Offensichtlich stellte Israels Regierung die Freundschaft zu Trump über die Sorgen der jüdischen Community.

Belastet vom völkischen Rassismus unserer Vorfahren möchten viele Deutsche im Judentum gern ausschließlich eine Religion sehen. Netanjahu versteht Israel jedoch als einen jüdisch-ethnischen Staat. Aus seinem ethno-nationalistischen Kurs heraus bestimmt er Bündnispartner und definiert Freund und Feind.

Gewiss, Israel soll weiterhin potenzielle Heimstatt aller Juden sein. Aber realpolitisch ist Netanjahu die christlich-evangelikale Rechte der USA, die ihn finanziell und politisch unterstützt, wichtiger als etwa junge liberale amerikanische Juden.

So erklärt sich auch die Freundschaft mit Nationalisten wie Orban in Ungarn und Kurz in Österreich: Ob diese Kräfte antisemitisch sind, ist gleichgültig, solange sie nicht antiisraelisch sind. Die israelische Soziologin Eva Illouz meint, ihr Land werde zum Vorbild von Nationen, die Zuwanderung ablehnen, die Überlegenheit einer ethnischen Gruppe behaupten, aber dennoch das Etikett Demokratie beanspruchen.

Diese Konstellation stellt progressive Deutsche, die sich aus historischer Verantwortung an der Seite Israels sehen möchten, vor ein Loyalitätsdilemma. Dafür gibt es keine einfache Lösung.

Ich verstehe gut, warum es sich richtig anfühlen kann, pro Israel zu sein. Als mich Jad Vaschem vor mehr als 25 Jahren zum ersten deutschsprachigen Workshop über die Schoah einlud, empfand ich dies als Auszeichnung. Allerdings hat das Israel von damals mit dem von heute nur noch wenig gemein: Die Oslo-Vereinbarung stand vor der Tür, viele hofften auf eine Friedenslösung.

Es war schon früher problematisch, aus ­Auschwitz eine Verbundenheit mit israelischer Regierungspolitik abzuleiten. Wer sich indes heute mit antifaschistischen Motiven ins Lager von Netanjahus Rechtsnationalismus stellt und seine Feindsicht übernimmt, handelt irrational. Die Ansicht, wegen der Schoah könne sich Israel über anerkannte Konventionen des Völker- und Menschenrechts hinwegsetzen, ist ein tragisches Missverständnis historischer Zusammenhänge. Die Besetzung palästinensischer Gebiete bleibt unrecht, und wer meint, schon die Verwendung der Wörter Besatzung und Palästina verrate Antisemitismus, muss die Vereinten Nationen mit auf die Anklagebank setzen. Das entspricht Netanjahus Weltbild.

Der Raum für politisch abweichende Ansichten ist unter Netanjahus Regierung stetig geschrumpft

Manche junge US-Juden, die erstmals Israel besuchen, wollen auch Westjordanland sehen, die andere Seite hören. Junge Deutsche brauchen dahinter nicht zurückzufallen. Fahrt hin, seht es euch an, damit ihr wisst, wovon ihr sprecht! Ob man getrennte Straßen für Palästinenser und israelische Siedler „Apartheid“ nennen sollte, wie es israelische Aktivisten tun, sei wohl überlegt. Aber vom hiesigen Sofa aus jeden als antisemitisch zu etikettieren, der den Begriff benutzt, ist politisch so falsch wie gefährlich. Den Vorwurf ohne Ansehen der Person und des Kontextes zu verbreiten höhlt ihn aus.

Auch Juden können Antisemiten sein, heißt es neuerdings über liberal-jüdische Kritiker der Besatzung. Aufgemerkt: Deutsche Antirassisten maßen sich an, zu entscheiden, welcher Jude antijüdisch ist? Anhand einer Checkliste? So viel Chuzpe kann nur im Windschatten Netanjahus gedeihen. Es ist seine Methode, missliebige Landsleute zur nationalen Schande zu erklären, etwa die Menschenrechtsaktivisten von B’Tselem, deren Leiter kürzlich vor dem UN-Sicherheitsrat aussagte. NGOs, die Förderung aus dem Ausland erhalten, gelten als bezahlte Verräter.

In Jerusalem saß ich einem ehemaligen Diplomaten gegenüber, einem betagten Mann, Nachkomme deutscher Holocaust-Flüchtlinge. Er sprach von der Trauer seiner Generation angesichts dessen, was aus Israel geworden sei. „Meine Regierung manipuliert die Angst vor Antisemitismus“, sagt er. „Das Gewicht der kollektiven Erinnerung an den Holocaust verliert sich, auch in Israel. Wir haben die Zeit verschwendet, die uns gegeben war.“ Er erbat sich für solche Sätze den Schutz der Anonymität.