: Ziemlich viel Energie im Raum
Auf dem Parteitag in Leipzig beschließt die Ökopartei ein ambitioniertes Europawahlprogramm. Jenseits dessen aber bleibt die Frage: Was wollen die Grünen mit ihrer gegenwärtigen Stärke anfangen?
Aus Leipzig Ulrich Schulte
Robert Habeck spricht auf der Bühne frei und mitreißend, er hebt beschwörend die rechte Hand, schaut in der Halle umher. Die 850 Grünen-Delegierten jubeln nach fast jedem Satz, klatschen den Rhythmus des Rocksongs „We will rock you“. Ziemlich viel Energie im Raum.
Habeck schiebt gerne ein „Das sage ich mit Demut“ in seine Sätze. Aber eigentlich macht er eine knallharte Kampfansage an die Volksparteien. Jene hätten eine zu schwache Bindekraft, ruft er. Man spüre die „Sehnsucht nach Menschen mit Fleisch und Blut, mit Haut und Haaren“. Die Leute suchten die Parteien, die am glaubwürdigsten Hoffnung und Leidenschaft verkörperten. Sie änderten ihre Meinung. „Das ist ein Ansporn für jeden Demokraten.“
Habeck meint natürlich sich und seine Grünen. Die Rede des Parteivorsitzenden ist der Höhepunkt des Parteitages in Leipzig, auf dem die Ökopartei ein ambitioniertes Europawahlprogramm beschlossen hat.
Die Frage ist ja, was die Grünen, die in Umfragen bei bis zu 22 Prozent stehen, mit ihrer Stärke anfangen wollen. In Bayern geht es weiter wie gewohnt, ohne die Grünen. Und Schwarz-Grün II in Hessen wäre auch kein echter Aufbruch. Da kommt es ganz recht, dass am Sonntag ein überraschendes Lob in die Messehalle platzt. Friedrich Merz lässt die Grünen per Bild am Sonntag wissen, sie seien „sehr bürgerlich, sehr offen, sehr liberal und sicherlich auch partnerfähig“.Die Grünen nehmen den Flirtversuch cool zur Kenntnis. „Man kann sich ja gegen Lob nicht wehren“, sagt Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. So wie Merz auftrete, gebe es aber eine riesige Distanz. Da gehe es wohl eher um Positionierung im Wettbewerb um die Merkel-Nachfolge als um tiefe Liebe zu den Grünen. Auch Parteichefin Annalena Baerbock reagiert kühl. „Es steht jedem frei, uns zu loben – und gern auch zu kritisieren.“
Solche Lässigkeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Grünen längst Gedanken über Machtoptionen im Bund machen. Wie lange hält die ermattete Groko noch? Wann und wie können Grüne endlich mitregieren? Diese Fragen werden in den Fluren diskutiert.
Klar ist: Die Grünen würden sich neuen Gesprächen über ein Jamaika-Bündnis nicht verweigern. Wohl aber nur, um den Vorwurf zu umgehen, sich zu drücken. Es gebe in der Führung niemanden, der Jamaika ohne Neuwahlen wolle, sagt einer, der es wissen muss. Schließlich wären die Grünen massiv unterbewertet. Bei der Bundestagswahl 2017 holten sie nur 8,9 Prozent, inzwischen sind sie in Umfragen mehr als doppelt so stark. Mehr Prozentpunkte bedeuten mehr Macht, mehr Ministerien, mehr Inhalte.
Klar ist aber auch: Nach Neuwahlen wären die Grünen zu allem bereit, auch unter einem konservativen Kanzler Merz. Schließlich hätten sie in Bayern auch mit einer CSU koaliert, der Habeck noch im Sommer unterstellte, „an einer fundamentalen Richtungsverschiebung hin zu einer illiberalen Demokratie“ zu arbeiten. Einfach wären Jamaika oder Schwarz-Grün allerdings nicht.
Die Grünen haben in Leipzig viel beschlossen, was Marktliberale und Konservative ärgert. Sie haben mit Ska Keller und Sven Giegold zwei linksgrüne Spitzenkandidaten gewählt (s. Text unten) – auch das Europaprogramm ist ambitioniert.
Die Grünen fordern eine Digitalsteuer, um Steuerdumping von internationalen Konzernen zu unterbinden. Sie wollen der Industrie höhere Preise für CO2-Ausstoß verordnen, und sie wollen, dass ab 2030 nur noch abgasfreie Autos zugelassen werden. In der Flüchtlingspolitik werben sie für einen Klimapass. Industriestaaten sollen Flüchtlinge aufnehmen, deren Heimat durch steigende Meeresspiegel bedroht ist.
Großer Streit bleibt beim Parteitag aus. Auch deshalb, weil sich der Vorstand bemüht, Strittiges hinter den Kulissen zu entschärfen. Ein Antrag, der auf mehr Kriegseinsätze der Bundeswehr hinausgelaufen wäre, wird umstandslos in den Grundsatzprozess verschoben. Nichts darf die demonstrative Geschlossenheit stören.
Etwas böses Blut gibt es in der Leipziger Harmonie dann doch, allerdings wegen eines Zwischenrufs aus der Ferne. Winfried Kretschmann, der nicht angereist ist, meldet sich per Interview zu Wort – pünktlich zur Festlegung des Kurses in der Flüchtlingspolitik am Samstag.
„Junge Männerhorden“ seien, salopp gesagt, das Gefährlichste, was die menschliche Evolution hervorgebracht habe, sagt der Oberrealo der Heilbronner Stimme und dem Mannheimer Morgen. Großstädte seien für solche Leute wegen der Anonymität attraktiv. Der Gedanke, einige von ihnen „in die Pampa“ zu schicken, sei nicht falsch.
Gefährliche Männerhorden in die Pampa schicken? So könnte auch Horst Seehofer formulieren. Ein solcher Vorstoß hat das Zeug für eine maximale Provokation. Linke Grüne reden sich über Kretschmann in Rage, Realos lachen, als sie die Meldung auf dem Smartphone sehen. Es ist nicht das erste Mal, dass der Baden-Württemberger der Partei per Interview unter die Nase reibt, wie wenig er von ihrer Programmatik hält.
Die Vorsitzende Annalena Baerbock betreibt Schadensbegrenzung. „Ich hätte es anders formuliert, aber in der Sache unterstreicht Kretschmann das, wofür wir Grünen lange streiten“, sagt sie: Die Grünen hätten immer gesagt, dass es für Asylsuchende dezentrale Unterbringung geben müsse.
Habeck sieht nichts Schlechtes in der allgemeinen Harmonie. Harmonie, ruft er auf der Bühne, sei in Wahrheit „eine Sammlung der Kräfte“. Harmonie bedeute Härtung der Position. Dann gibt er den Delegierten noch einen ehrlichen Gedanken mit. Das, was außerhalb der Messehalle passiere, habe wenig zu tun mit dem, was die Grünen beschlossen hätten.
In der Tat: Das Europa, das die Grünen wollen, ist – Stand jetzt – Wunschdenken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen