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Frieren an einem heißen Sommertag

Medienkunst in der Eiermann-Kapelle: Bettina WitteVeen erinnert an das Trauma des Ersten Weltkrieges

Von Sabine Weier

Militärs und Diplomaten aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien unterzeichnetenam 11. November 1918 den Waffenstillstand von Com­piègne. Auf das Chaos des Ersten Weltkrieges folgte das kollektive Trauma, ein wackeliges Fundament jener neuen demokratischen Ordnung in Europa, die bald aus den Fugen geriet und heute abermals wankt. Wie einige HistorikerInnen bezeichnet auch die Künstlerin Bettina WitteVeen den Ersten Weltkrieg als „Urkatastrophe“.

Mit diesem und anderen Kriegen beschäftigt sie sich in ortsspezifischen Installationen. Etwa auf dem Areal der ehemaligen Militärstadt Wünsdorf, in einer unterirdischen Munitionsfabrik in Berlin und in einem New Yorker Militärkrankenhaus. Nun bespielt sie die Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit dem letzten Kapitel ihres Werkkomplexes „Das Herz der Finsternis“. „II.II.I8 Dämmerung“ heißt die Ausstellung, der Titel bezieht sich auf den Waffenstillstand vor 100 Jahren.

Daran, dass Geschichte sich wiederholt, erinnert neben der Kapelle die Ruine der 1943 durch Fliegerbomben zerstörten Kirche. Nur vor der Folie der Erfahrung des Ersten Weltkrieges seien der Zweite Weltkrieg und die Konflikte der Gegenwart zu verstehen, sagt die Künstlerin. Was derzeit in Europa los ist, beobachtet sie aus der Ferne. 1958 in Mannheim geboren, ging sie als junge Frau nach New York, um der bleiernen Nachkriegszeit zu entfliehen. Immer wieder kreist ihre Arbeit um die Frage, wie persönliche Erfahrungen von Krieg und Gewalt in die Gesellschaft wirken.

Mit der Kapelle, die als Teil des vom Architekten Egon Eier­mann entworfenen Ensembles der neuen Gedächtniskirche um 1960 gleich neben der Ruine erbaut wurde, hat sie einen symbolträchtigen Ort gefunden. Denn die nach 1945 eingeläutete demokratische Erneuerung manifestierte sich auch in der Formsprache der Moderne. Daran erinnern hier der gläserne Kubus, umgeben von einer Mauer aus Beton und bunten Glassteinen, und im Inneren Sessel aus Holz und Leder sowie der Altar, eine Adaption des Eiermann-Tischgestells. Chrysanthemen und Dahlien hat die Künstlerin darauf platziert, wo sie jetzt als Memento mori vor sich hinwelken.

Nach hinten und vorne hat Bettina WitteVeen die Sessel je zur Hälfte ausgerichtet. Die Anordnung steht für zwei Blicke: den auf die Geschichte und den auf die Gegenwart. Links neben dem Altar schauen BesucherInnen auf ein in Kreuzform arrangiertes Tableau aus Fotografien. Ein Schlachtfeld, das hier nur als Blumenwiese zu sehen ist, Soldaten, die einen gefallenen Kameraden betrauern, das Bildnis eines jener entstellten Gesichter, die das visuelle Gedächtnis an den Ersten Weltkrieg prägen. Rechts neben dem Altar strömen Stimmen aus Lautsprechern: Fragmente von in Englisch, Deutsch, Französisch und Russisch verfassten Gedichten aus dem Ersten Weltkrieg. Auch Erfahrungen von BerlinerInnen sind hier verarbeitet und verdichten sich zusammen mit Stimmen der anderen zu einer gemeinsamen europäischen.

Wer sich mit dem Blick nach hinten platziert, schaut auf zwei Bildschirme, die jeweils den Eingang zur Kapelle flankieren. Dort laufen Bildfolgen mit collagiertem Material aus gefundenen Fotografien ab. Die Bilder erzählen von Heimkehrern und hungernden Kindern, von Fliehenden, von politischer Radikalisierung auf den Straßen der Weimarer Republik. Sie zeigen apokalyptische Landschaften, Explosionen auf Schlachtfeldern, Ruinen.

Wie wirken persönliche Kriegserfahrungen in die Gesellschaft?

Der Großvater der Künstlerin ist in einer Gruppe von Offizieren zu sehen. Die arrogante Haltung der Befehlshaber falle auf, sagt sie. Auf einem anderen ein dunkelhäutiger Soldat, nur noch einen Fuß im Stiefel, den anderen nackt. Er stehe für die vielen im Krieg vertretenen Nationen, sagt sie. Und er erinnert an die Kolonialgeschichte, deren Erzählstränge in das große Narrativ der Weltkriege reichen.

Der Erfahrung des einzelnen Soldaten im Ersten Weltkrieg ist die Künstlerin auch in einem erhaltenen Schützengraben nachgegangen. Metallisch habe es dort gerochen, sich blutig angefühlt, erzählt sie. Gefroren habe sie an einem Sommertag. Verlassen habe sie sich gefühlt, als sei sie der letzte Mensch auf Erden. Diese Einsamkeit setzt sich in den Kriegen der Gegenwart fort, nur ist der Schützengraben ein Computerscreen.

In Berlin enden WitteVeens Bildfolgen mit einem Margeritenfeld im Dämmerlicht, in das eine ferngesteuerte Kampfdrohne fliegt.

Bis 25. November. Am 8. November um 20 Uhr findet in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche das Benefizkonzert statt: Paul Hindemith, „Das Marienleben“, op. 27, Gedichte von Rainer Maria Rilke.

Der Reinerlös geht an das Projekt „Gitarren statt Gewehre“ im Ausbildungszentrum CAPA, das ehemaligen Kindersoldaten in der DR Kongo einen Neubeginn ermöglicht.

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