: Eine andere Welt ist notwendig
Im brasilianischen Porto Alegre diskutiert das Goethe-Institut mit der Ausstellung „Die Macht der Vervielfältigung“ die Zukunft der Reproduktion im digitalen Zeitalter
Von Ingo Arend
„Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.“ Walter Benjamins zu Tode zitierter Satz aus seinem berühmten Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hat sich nicht bewahrheitet. Sonst würden die Kunstfreunde nicht Schlange vor der echten Mona Lisa im Pariser Louvre stehen, die alle Jutebeutel und Seidenschals dieser Welt ziert.
Die neue „Macht der Vervielfältigung“, die Benjamin fürchtete, ist offenbar also nicht nur kein Grund zu Kulturpessimismus. Dass sie auch keineswegs dem Zeitalter des Postfaktischen den Weg bereiten muss, zeigt jetzt eine aufschlussreiche Ausstellung im brasilianischen Porto Alegre. Und das in einem Land, dessen neuer Präsident Jair Bolsonaro gerade ins Zwielicht geraten ist, weil er im Wahlkampf millionenfach Fake News über WhatsApp an alle Wähler verschicken ließ.
Neun brasilianische und fünf deutsche Künstler hat Gregor Jansen, Direktor der Kunsthalle Düsseldorf, unter dem Titel „O Poder da Multiplicação – Die Macht der Vervielfältigung“ im Museu de Arte do Rio Grande do Sul, Kunstmuseum des gleichnamigen Bundesstaates im Süden Brasiliens versammelt. Sie zeigen, dass sich künstlerische Reproduktion längst nicht mehr auf die klassischen Techniken beschränkt.
Für Letztere steht Thomas Kilppers Arbeit „Another world is necessary“. In roten Großbuchstaben auf einem wehenden Banner zieht sich das Motto über eine grün-rote Bildfläche. Dazwischen sind Porträts von Personen der Zeitgeschichte zu erkennen: Der ehemalige US-Präsident Lyndon B. Johnson oder der brasilianischen Umweltaktivist José Lutzenberger. Der Berliner Künstler Kilppers schnitzte die Szenerie 2016 in den Parkettfußboden der Künstlerresidenz Vila Flores und „druckte“ das Bild mit den eigenen Füßen auf eine darüber gelegte Leinwand.
Der Berliner Künstler Ottjörg A. C., der seit einiger Zeit in Porto Alegre lebt, nimmt Bezug auf das Fundament aus Gewalt und Blut, auf dem jeder Staat gründet. Seine Drucke sind Matrizen der originalen Holzpfähle, auf denen das Berliner Schloss einst ruhte und die 2012 entfernt werden mussten, als dessen Rekonstruktion begann.
Die Farbe Preußisch Blau, die er für den Druckvorgang benutzte, ruft den Farbton auf, den der Chemiker Johann Jacob Diesbach 1704 zufällig erfand, als er mit der Oxidation von Eisen einen roten Farbton synthetisieren wollte. Das Rot in Ottjörgs Drucken spielt auf das Blut der Kriege an. „Blut und Eisen“ ist bis heute die Metapher des Bismarck’schen Staatsprojekts geblieben.
Avancierter wird es bei der deutschen Künstlerin Hanna Hennenkemper. Sie beregnet ihre mit alten Werkzeugen belegten Druckplatten mit Harzstaub, um den Eindruck eines archäologischen Artefakts zu erwecken.
Regina Silveira, die Grande Dame der brasilianischen Kunst, kreuzt traditionelle Grafiktechniken mit industriellen Druckverfahren wie Offset, Heliografie oder Mikrofilm, um Fragen von Macht und Herrschaft zu thematisieren.
Wie man eine scheinbar altertümliche Technik zur politischen Aufklärung verwenden kann, zeigen die beeindruckenden Arbeiten von Rafael Pagatini. Das Bild des brennenden VW-Käfers, das der brasilianische Künstler in seiner Arbeit „Manipulations – Manipulações“ (2016) auf hauchdünnes, japanisches Seidenpapier gedruckt hat, nimmt ein populäres Motiv aus der Zeit der Proteste gegen die brasilianische Militärdiktatur auf.
Die Regierung lancierte es damals in den Medien, um die Linke terroristischer Gewalttaten zu beschuldigen, die sie selbst instruiert hatte. Eine Ikone der Lüge und Manipulation, präsentiert mit der Aura der Authentizität der klassischen Druckästhetik auf einem Material, das sich im Laufe der Ausstellung zersetzt – so schärft Pagatini den Blick dafür, wie Politik, Geschichte und Erinnerung zusammen hängen.
Eine eigene Aura
Die vom Goethe-Institut in Porto Alegre initiierte Ausstellung ist ein Musterbeispiel sinnvoller Kulturkooperation: Sie nimmt eine lokale Tradition auf, legt seine interkulturellen Querverbindungen offen und weitet das Thema ins ästhetisch Grundsätzliche. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gründeten nämlich in Rio Grande do Sul deutsche Einwanderer unzählige Druckclubs, die zum Vorbild ähnlicher Initiativen für kollektives künstlerisches Arbeiten in ganz Südamerika wurden.
Zeigte das Goethe-Institut vor zwei Jahren mithilfe des Berliner Kupferstichkabinetts historische Positionen der brasilianischen Druckkunst, schließt der Diskurs nun in die Gegenwart auf. „Wir wollten die Zukunft der Reproduktion im digitalen Zeitalter diskutieren“, erklärt Institutsleiterin Marina Ludemann die Motive hinter ihrem ambitionierten Langzeitprojekt.
Dass Reproduktion inzwischen sogar etwas wie eine eigene Aura entwickeln kann, zeigt der Künstler Tim Berresheim. Er hat seine Serie von Zeichnungen „The Early Birds“ von 2012 in einen dreidimensionalen Bildraum überführt, den man mit einer App ansteuern kann.
Wenn man vor der großen Wand der zentralen Ausstellungshalle hinter der 3-D-Brille den Schnabel eines der riesigen Vögel direkt vor Augen hat, meint man, das „sonderbare Gespinst aus Raum und Zeit“ zu sehen, das schon Walter Benjamin faszinierte.
Die Ausstellung wird vom 28. Februar bis zum 24. März 2019 in der Leipziger Baumwollspinnerei zu sehen sein
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