Indien revolutioniert Armutsbekämpfung

Bis 2010 soll jede Familie Indiens mindestens einen Angehörigen in bezahlter Arbeit haben. Dafür gibt es gigantische staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme. Premierminister Singh spricht vom wichtigsten Gesetz Indiens seit der Unabhängigkeit

Jedes Jahr drängen in Indien 8 Millionen Menschen auf den Arbeitsmarkt

AUS DELHI BERNARD IMHASLY

Indiens Premierminister Manmohan Singh nannte es „das wichtigste Gesetz in der Geschichte des unabhängigen Indien“. Er bezog sich auf das neue Gesetz zur Arbeitsbeschaffung im ländlichen Raum, das „National Rural Employment Guarantee Act“, das noch am gleichen Tag vom Senat mit überwältigender Mehrheit beschlossen wurde. Einen Tag zuvor hatte auch das Unterhaus sein Plazet gegeben. Das Gesetz führt in Indien die erste nationale Arbeitslosenversicherung für arme Menschen in ländlichen Gebieten ein, gekoppelt mit einem öffentlichen Arbeitsprogramm gigantischen Ausmaßes.

Für die Armutsbekämpfung im Land mit den meisten Menschen in absoluter Armut auf der Welt ist das Gesetz eine Revolution. Es sieht vor, in jeder Familie eine erwachsene Person 100 Tage lang in einem Arbeitsprogramm zu beschäftigen, für einen Mindestlohn von 60 Rupien pro Tag (rund 1,12 Euro). Falls die Dorfgemeinde diese Beschäftigungsgarantie nicht erfüllen kann, erhält jede arbeitswillige Person für den gleichen Zeitraum ebenfalls mindestens 60 Rupien ausbezahlt. Ein Drittel der Begünstigten müssen Frauen sein. Das Programm soll in 200 Bezirken starten und in fünf Jahren alle 600 Distrikte Indiens abdecken. Es wird im ersten Jahr 400 Milliarden Rupien (7,5 Milliarden Euro) kosten, was 1 Prozent des Bruttosozialprodukts entspricht. Wenn das ganze Land abgedeckt ist, könnten die Kosten auf das Dreifache steigen.

Für ein so wichtiges und kostspieliges Gesetzeswerk war es erstaunlich, dass im Parlament praktisch keine Debatte stattfand. Es ging per Akklamation über die Bühne, während Indiens Abgeordnete beispielsweise seit über einem Jahrzehnt über eine Quotenregelung für Frauen streiten. Der Grund: Bei der Frauenquoten-Frage werden tiefe Vorurteile wirksam, aber bei der Armutsbekämpfung wird das Füllhorn über dem geschlechtsneutralen „Common Man“ ausgeschüttet, dessen Gesicht in Indien immer noch von Armut gezeichnet ist. Und dieser „Aam Admi“ hat in den letzten Jahren deutlich gemacht, dass er bei Wahlen fähig ist, Politiker zu bestrafen, die ihn in ihrem Modernisierungseifer vergessen.

Daneben gibt es auch echte Sorge über die Entwicklung der Wirtschaft. Diese ist im letzten Jahrzehnt um rund 6 Prozent pro Jahr gewachsen. Aber dieses Wachstum lief einseitig in der Industrie und im Dienstleistungssektor ab. Die Landwirtschaft, die immer noch zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung beschäftigt, weist ein Wachstum von nur 1,5 Prozent auf, weniger als die jährliche Bevölkerungszunahme. Und diese kann von den beiden anderen Sektoren nicht absorbiert werden; deren starkes Wachstum ging auf Produktivitätsfortschritte zurück. Noch heute beschäftigt die moderne Industrie nicht viel mehr als 5 Millionen Arbeiter – 6 Millionen, wenn man die Software-Industrie dazurechnet – bei einem Beschäftigtenpool von 350 Millionen. Jedes Jahr schafft Indien 4 Millionen Arbeitsplätze, aber 8 Millionen Menschen drängen auf den Arbeitsmarkt.

Zunehmender Wohlstand bei den städtischen Mittelklassen geht einher mit einer Vertiefung der Armut in vielen ländlichen Gegenden, erkennbar etwa an der Abnahme des Pro-Kopf-Konsums von Grundnahrungsmitteln seit 1998. Staatliche Armutsprogramme – „Food for Work“-Initiativen, Mittagsmahlzeiten in Schulen und für stillende Mütter – verhindern meist nur, dass Menschen verhungern.

Die Kritik am Gesetz richtet sich denn auch weniger gegen die Notwendigkeit einer Arbeitsversicherung für die ärmsten 250 Millionen unterernährten Mitbürger. Sie richtet sich gegen die Gestaltung des Programms. Wiederum soll die ineffiziente und korrupte staatliche Bürokratie alles richten. Zwar werden Dorfräte Arbeitsaufträge vergeben, Arbeitsberichte führen und Zahlungen vornehmen. Doch das Geld kommt vom Zentralstaat, wo fünf verschiedene Ministerien dafür verantwortlich sind. Auf jeder nachgelagerten Stufe – Bundesstaat, Bezirk, Block, Dorf – gibt es weitere Instanzen. Es ist genau dieses komplexe Gewebe, das in der Vergangenheit in Indien Basisentwicklung verhindert hat. Die zuständigen Politiker sind oft die größten Nutznießer solcher Subventionsmodelle.

Ein zweiter Vorwurf betrifft den ökonomischen Nutzen der vergebenen Arbeiten. Der Bau von Straßen, Dämmen, Kanälen stellt meist Reparaturen dar und schafft keine neuen Werte. Als Modell für das neue Gesetz dient das „Employment Guarantee Scheme“ (EGS) im Bundesstaat Maharashtra, das seit 30 Jahren in Kraft ist – heute ist die ländliche Armut dort allerdings kaum geringer als in anderen Regionen. „Jedes Jahr werden wieder dieselben Kanäle ausgehoben und zugeschüttet“, sagt der Abgeordnete Sharad Joshi, Gründer einer Bauerngewerkschaft. „Das Programm hat geschadet, da viele Arbeiter hier billig zu ihrem Mindestlohn kommen, während sie bei einem Bauern für weniger Geld schwer arbeiten müssten.“

Dazu kommt, dass der Zentralstaat vier Fünftel der Kosten des Programms tragen soll. Während der Premierminister in seiner Parlamentsrede die Annahme des Gesetzes wärmstens empfahl, meldete sich am Schluss doch noch der Ökonom in ihm zu Wort. Nur wenn die Wirtschaft um 7 bis 8 Prozent pro Jahr wachse, könne der Staat ein so ambitiöses Unternehmen finanzieren. Ein solches Wachstum sei aber nur möglich, wenn auch Privatinvestitionen – einschließlich ausländischer – flössen, und wenn das Land ein „arbeitsfreundliches“ Klima habe. Das war ein Wink an seine linken Koalitionspartner.