: In der Stadt der Dome
Wer Backsteingotik will, der ist in Wismar richtig: Die Kreisstadt von Nordwestmecklenburg ist geprägt durch mehrere markante Kirchen und weitere Stil-Beispiele. Teils haben sie eine denkbar wechselhafte Geschichte
Von Alexander Diehl
Es ist ja nicht so, als hätten sie nichts anderes zu bieten. Kommt man etwa von der richtigen Seite aus nach Wismar, dann sieht man zuerst die Kräne. Denn einen Hafen haben sie hier, wo das Flüsschen Köppernitz sowie die menschengemachten Stadt- und Wallensteingrube in die Ostsee münden, und immer gab es hier bedeutenden Schiffbau. Auch dass die mecklenburgische Hansestadt – zusammen mit dem 120 Kilometer weiter nordöstlich gelegenen Stralsund – seit 2002 zum Unesco-Weltkulturerbe zählt, hat nicht mit Backsteinen zu tun. Oder zumindest nicht ausschließlich: Da ging es auch um die gut erhaltene mittelalterliche Struktur, das kaum veränderte Hafenbecken und derlei. Und wussten Sie, dass hier das allererste Karstadt-Kaufhaus steht?
Auch ist der Marktplatz einer der größten in Norddeutschland, und an seinen Rändern stehen ein klassizistisches neues und das alte Rathaus aus der Schwedenzeit, heute „Alter Schwede“ geheißen: An die lang währende „Schwedenzeit“ – die Stadt war zwischen 1648 und 1903 schwedisch – erinnern sie in Wismar seit Ende der DDR alljährlich mit einem „Schwedenfest“, zuletzt Mitte August. Auch die Hansezeit gab es, aus der sich manches machen lässt mit Blick auf den Fremdenverkehr. Aber wer erst mal drin ist in der seit der Wende so pittoresk – böse Zungen sagen: puppenstubenhaft – herausgeputzten Kreisstadt: Der steht dann mit hoher Wahrscheinlichkeit im Schatten eines Kirchturms aus leuchtend rotem Backstein.
Als „Stadt der Dome“ ist der 40.000-Einwohner*innen-Ort bezeichnet worden, ein wenig irreführend, denn im Protestantischen sind die allermeisten Dome vor der Reformation errichtete ehemalige Bischofssitze – und so einen gab es hier nicht. Bis heute ist aber eine Broschüre zu erwerben – Titel: „Stadt der Dome“ –, deren Herausgeber, Pastor Andreas von Maltzahn, hinweist auf eine Formulierung, die Mitte des 20. Jahrhunderts gar auf die profane Post gestempelt wurde: „Besucht Wismar/Ostsee mit seinen Domen.“
Auch der junge Theodor Heuss hat sich geäußert in dieser Sache: „Die paar Schritte zwischen St. Marien und St. Jürgen in Wismar – das ist eine andere Welt“, schrieb der spätere Bundespräsident in einem Text namens „Herbstreise durch Mecklenburg“, erschienen 1920 in der liberalen Zeitschrift Die Hilfe. Und fragt: „Wo noch sind auf zweihundert Meter so gewaltige Dome zusammengedrängt, Zeugnisse überquellender bürgerlicher Kraft und stolzer Frömmigkeit, in rascher Folge aufgestellt und schließlich am zu großen Wollen ermattend.“
Auch ohne Bischöfe: Beeindruckend sind die drei Kirchen, die bis heute das Stadtbild prägen, wobei: Drei, das ist dann schon eine mit Vorsicht zu genießende Zählung. Denn einerseits gibt es noch mehr Kirchen, darunter gar katholische und obendrein noch bedeutende backsteingotische Profanbauten. Und von St. Marien ist kaum mehr als der markante 80-Meter-Turm erhalten, nach einem Bombentreffer im April 1945, aber vor allem der Sprengung weiterer Teile 1960.
Auf dem Grundriss der Kirche aus dem 14. Jahrhundert entsteht derzeit das „Marien-Forum“: eine irgendwann dann barrierefrei zu erlebende archäologische Freiluft-Ausstellung an Wismars historischem Zentrum. „Es wird unserer Stadt und dem Tourismus vor Ort wichtige Impulse verleihen“, so der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Junge, als er Ende 2016 eine Million Euro Bundesfördermittel mit nach Wismar bringen konnte. Bis dahin kann, in diesem Jahr noch bis Ende Oktober, im kommenden dann wieder ab Mitte April , gleich neben dem Turm im „Sleeperoo“ genächtigt werden, einer Art futuristisch gepimptem Zelt mit Blick in den Mecklenburger Sternenhimmel.
Die Tourist-Information, Lübsche Straße 23a, ist erreichbar unter ☎ 03841/194 33, touristinfo@wismar.de; www.wismar.de/tourismus-welterbe.
Das Welterbe-Haus, ebenfalls Lübsche Straße 23, informiert seit Juni 2014 über die Unesco und Wismars Geschichte. Das Besucherzentrum ist – nach denen in Regensburg und Stralsund – das dritte seiner Art in Deutschland.
Geöffnet sind beide von Oktober bis März von 10 bis16 Uhr, von April bis September von 9 bis 17 Uhr.
Prospektmaterial kann hier bestellt oder auch gleich heruntergeladen werden: https://web4.deskline.net/wismar/de/brochure/list.
Stadtführungen lassen sich recherchieren und buchen unter ☎ 03841/225 29-121.
Die städtische Zimmervermittlung ist erreichbar unter
☎ 03841/225 29-123.
Die Kirchen in der daran so reichen Stadt präsentieren sich hier: www.kirchen-in-wismar.de;
www.wismar.de/Tourismus-Welterbe/Wismar-Stadtkirchen.
Die Europäische Route der Backsteingotik, die von Dänemark über Deutschland nach Polen führt – und dabei, klar, auch durch Wismar – informiert hier über sich und ihre Anliegen: www.eurob.org.
Ziemlich lange ziemlich kaputt war auch St. Georgen, die zweite große Wismarer Kirche. Auch sie wurde im 2. Weltkrieg beschädigt, die Ruine ließ man dann aber stehen. Um nicht zu sagen: Sie verfiel. Nachdem aber zu Jahresanfang 1990 herabfallendes Mauerwerk ein Kind das Leben gekostet hatte, begann, was man gern eine Erfolgsgeschichte nennt, und vielleicht keine selbstverständliche: Sehr viel weniger dröhnend und spektakulär in Szene gesetzt als vergleichbare Projekte in anderen (ost-)deutschen Städten, begannen die Maßnahmen zu Rettung und Wiederaufbau noch in den letzten Tagen der DDR, und das von der anderen Seite des zunehmend löcherigen Eisernen Vorhangs: Von Lübeck aus suchte damals der Förderkreis St. Georgen zu Wismar e. V. zu wirken, später holte man auch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz ins Boot, und im Mai 2010 konnte ein vorläufiger Abschluss des Wiederaufbaus gefeiert werden. Diese größte und jüngste unter den Wismarer Backsteingotik-Kirchen ist die am weitesten vom Lübecker Vorbild St. Marien sich entfernende. Heute dient sie gern auch für religionsferne Anlässe, etwa Examensfeiern der örtlichen Hochschule.
Von Bomben – wie auch der SED – weitgehend verschont blieb St. Nikolai. An gleicher Stelle soll es schon Mitte des 13. Jahrhunderts eine Kirche gegeben haben, von einem Neubau ist in Dokumenten um 1280 die Rede – insofern könnte die heute noch dort stehende zwischen 1381 bis 1487 errichtete „Kirche der Seefahrer und Fischer“ bereits die dritte sein. Einen Turmhelm erhielt sie nochmal später, 1508. Ende 1703 zerstörte dann ein Orkan Dach und Gewölbe des Langschiffes; der Turm wurde nie wieder rekonstruiert, und von stolzen 120 Metern zwischen Erdboden und Turmspitze blieben 60. Dass die Frau am Andenkentapeziertisch trotzdem findet: „Unsere ist die schönste“, also die schönste der drei markanten Kirchen – man kann es verstehen.
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