Der Arzt, dessen Leben eine Täuschung war

Wo ist die Wahrheit hinter der Lüge? Emmanuel Carrères frühen Tatsachenroman „Der Widersacher“ gibt es nun auf Deutsch

Emmanuel Carrère: „Der Widersacher“. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 195 Seiten, 22 Euro

Von Sophie Jung

Fünf Jahre hatte Emmanuel Carrère vergeblich am Fall Jean-Claude Romand aus dem französischen Jura gearbeitet, um endlich diesen ersten Satz aufzuschreiben – und damit doch noch eine literarische Form zu finden, der realen Hauptfigur seines Romans zu begegnen: „Während Jean-Claude Romand am Samstagmorgen, den 9. Januar 1993, seine Frau und seine Kinder tötete, saß ich mit meinen in einer Versammlung der Schule unseres älteren Sohnes.“ Der Erzähler setzt sich also gleich mit seiner Hauptfigur in Beziehung, auch wenn sie schreckliche Dinge getan hat.

So beginnt Emmanuel Carrères früher Roman „Der Widersacher“. Der Autor, inzwischen zum Literaturstar gereift, erzählt darin die wahre Geschichte eines Mannes, der 18 Jahre lang sein Leben auf Betrug und Täuschung aufgebaut hatte: Seine Forscherstelle an der WHO in Genf, seine internationalen Dienstreisen und seine Vorlesungen in Dijon waren nur erlogen, das Geld, mit dem er den Schein des erfolgreichen Mediziners und Familienvaters finanzierte, war veruntreut. Kurz bevor sein soziales Gerüst einzustürzen droht, bringt er seine Ehefrau, seine beiden Kinder und seine Eltern um.

„Der Widersacher“ berichtet aber auch vom Autor selbst, der sich in Recherchen über den rätselhaften Täter verstrickt und schließlich an der Undurchsichtigkeit seiner Hauptfigur scheitert. Carrère gibt schließlich die Perspektive des allwissenden Beobachters auf und widmet sich dem Fall Jean-Claude Romand als zweifelnder Ich-Erzähler. Denn die Wahrheit über diesen „stämmigen Mann“ mit seinem „molligen, schlaffen Körper“, der auch vor Gericht seine eigenen Lügen von der Realität nicht unterscheiden will, bleibt dem Autor verwehrt. Seinen Empfindungen über die Geschehnisse aber kann Carrère als Ich-Erzähler folgen.

„Der Widersacher“, bereits 1999 auf Französisch erschienen, wurde Carrères erster Tatsachenroman. In Frankreich ein großer Erfolg und 2002 verfilmt, hatte der Autor mit diesem Buch ein eigenes Genre gefunden: Wahren Stoff erzählt er aus einer subjektiven Perspektive, in die Narration schaltete er seine ambivalente Stimme ein. In dieser Spielart des Tatsachenromans sollen später Carrères erfolgreiche Bücher „Limonow“, „Das Reich Gottes“ oder „Ein russischer Roman“ folgen. Der Verlag Matthes & Seitz veröffentlicht nun auf Deutsch diesen frühen Bericht über die Selbstfindung eines Autors, der heute einer der wichtigsten Vertreter der französischen Gegenwartsliteratur ist, übersetzt wie immer bei Carrère von Claudia Hamm.

„Der Widersacher“ ist ein schmerzhaftes Buch. Nur punktuell, aber mit psychologischer Schärfe zoomt sich Carrère in die Schlüsselmomente eines angehenden Familienmörders hinein. Da ist etwa jener Morgen im zweiten Studienjahr Medizin: „Am Tag der mündlichen Prüfung stand der Zeiger seines Weckers zunächst auf der Stunde, zu der er hätte aufstehen sollen, dann auf der des Prüfungsbeginns, später auf der ihres Endes. In seinem Bett liegend schaute er ihm zu. (…) Am frühen Nachmittag riefen seine Eltern an, und er sagte, alles sei gut gegangen. Sonst rief niemand an.“

Jean-Claude Romand, ein einsamer Junge mit Prüfungsangst. Er wird nie wieder eine Prüfung antreten. Stattdessen wird er lügen.

Im Selbstversuch begibt sich der realitätssuchende Carrère in den versteckten Alltag des Täters. Er sucht die Parkplätze und Autobahnraststätten auf, an denen Romand stundenlang vor sich hingedöst haben muss, während andere ihn bei bahnbrechenden Forschungsarbeiten wähnten. An diesen Transitorten vor der zersiedelten Ebene von Genf versteht der Autor: „Eine Lüge dient normalerweise dazu, eine Wahrheit zu verbergen, etwas vielleicht Beschämendes, aber Wahres. Die seine verbarg nichts. Hinter dem falschen Doktor Romand gab es keinen echten Jean-Claude Romand.“

Die Leere seines Lebens wollte Jean-Claude Romand sich nicht eingestehen, bis zur bittersten Konsequenz. Ein Buch über Schwächen, die wir alle kennen, über Lügen, die wir alle erzählen und die sich zur Katastrophe verhärten.