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Die Abgründe der Welt aufgerissen

Tanzmonster, garantiert: Die Londoner Hofesh Shechter Company hält ihr Publikum in der Schwebe – zwischen Lust und Grauen

Lassen die Arme fliegen: Tänzer*innen der Hofesh Shechter Company Foto: © Rahi Rezvani

Von Astrid Kaminski

Sie recken die Fäuste im Rave, als gelte es, ein ultimatives Work­out hinzulegen. Und wenn die Trance sich doch noch nicht einstellt, recken sie die Fäuste etwas mehr, lassen ihre elastischen Körper sprungfederartig in die Streckung schnellen und klopfen am Himmel an. Es ist kein freundlicher Himmel.

Sie verbiegen sich, kriechen auf der Hüfte, die Knie wie ein Schneckenhaus nach oben geklappt, sie buckeln und ducken sich voreinander wie Paul Klees „Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich“, sie schauen einander mit hohlen Gesichtern an wie in einer Zeichnung von Käthe Kollwitz, sie umarmen sich und flutschen aus den Umarmungen wie leblose Puppen. Sie buchstabieren aneinander die Zurichtungen des Tanzes durch, liegen in Körperstapeln wie Leichen, schnellen in Formationen, schleifen einander aus dem Weg, zirkeln im Schulterschluss wie bacchantische Tölpel, lassen die Arme fliegen, springen in wilde Drehungen und, wie im Flug zusammengefaltete Pakete, in seltene Hebungen. All das geht beim Choreografen und Komponisten Hofesh Shechter und seinen neun Tänzer*innen im Sekundentakt.

Mit dem aktuellen Stück „Grand Finale“ war die Hofesh Shechter Company aus London ein weiteres Mal bei seiner Berliner Stammadresse, dem Haus der Berliner Festspiele, zu Gast. Auch wenn die teuren Plätze dieses Mal nicht ganz ausverkauft waren, hat die Company sich für ihre furiosen Tänze bei dröhnenden Beats ein Publikum aufgebaut, das weiß, wofür es kommt – und es kaum erwarten kann, zum Schlussapplaus jubelnd aus den Sitzen zu springen.

Das funktioniert auch am Wochenende wieder so – mit einem Unterschied: Die Musik wird live gespielt und die Dezibel-Zahl der verstärkten Streicher, Zither und Percussions reicht nicht an den sonst üblichen Lärm heran – im Gegenteil, sie verebbt am Ende geradezu in melancholisch ausgedünnten Streichertönen. Ein Aushauchen nach diesem großen Finale, nach diesem Parforceritt haarscharf am Rand der Apokalypse entlang, ein erschöpftes Wissen: Wir haben es auf die Spitze getrieben, wir haben die Abgründe der Welt aufgerissen, aber sie, die Welt, ist nicht untergegangen, sie macht, mit all ihren Leichen im Keller, weiter.

Nur so kann es auch für Shechter nach dem „Grand Finale“ noch weitergehen. Und anzunehmen ist: Es geht weiter wie bisher. Denn überraschend ist dieses Werk nicht. Die Komponenten sind bekannt: eine militaristische Getriebenheit und Brutalität, Volkstanz-, Clip-, Club- und zeitgenössische Tanzüberblendungen, scheinbares Chaos und sich gegen das Chaos behauptende Form(ationen), dazu Shechters virtuoses konkav-konvexes Körperidiom mit weichen Hüften und Schultern, die sich in alle Richtungen biegen können und doch nie die Spannung verlieren.

So wirkt es, als würden Club-Szenen mit jüdischen Hochzeitsfesten gegengeblendet

Wie Vögel, kurz vor dem Abheben mit aufgeblähten Schultergürteln, wirken die Tänzer*innen zuweilen, dann wieder wie gerade in die Zweibeinigkeit entlassene Primaten oder wie eine Brueghel’sche Kirmesmenge, die sich kurz darauf in wild gewordene Gogo-Tänzer*innen verwandelt. Verlagerungen sind in diesem großen Shechter’schen Tanzmonsterreigen allerdings sehr deutlich aufgetreten: weg vom expliziten Militarismus hin zum hedonistischen Rausch mit immer deutlicher zutage tretenden Volkstanzelementen, die – bis in die Kleidung (weite Hüftbundhosen und eingesteckte Hemden) – immer konkreter Traditio­nen aus dem osteuropäischen Judentum zu zitieren scheinen. Shechters eigene Tanzausbildung begann in Jerusalem einst mit Volkstanz. Diese biografische Komponente scheint nach dem Verarbeiten seiner Militärerfahrungen eine Rolle zu spielen und wird in „Grand Finale“ sicherlich durch die Tatsache verstärkt, dass er vor dieser Choreografie mit „Fiddler on the Roof“ seine erste Broadway-Arbeit hinlegte.

So wirkt es streckenweise, als würden Club- mit Purim-Szenen oder orthodoxen jüdischen Hochzeitsfesten gegengeblendet, die wiederum alternieren in Situationen von Ohnmacht und Unterwerfung bis hin zu einem Körperstapel, der von zwei Tänzern in militärischer Grußhaltung dominiert wird.

Hierin lassen sich Widerspiegelungen der perfiden NS-Instrumentalisierungen des Rauschgebots zu Purim sehen: Betrunkene Juden eigneten sich hervorragend zu antisemitischer Propaganda. Diese Ambiguitäten durchziehen die Tanzszenen geradezu zwanghaft, jeder Lust ist (um mit Bruno Schulz einen weiteren großen Ambiguitätenkünstler zu zitieren) sofort ihr „kläglich Kompromittierendes“ anzusehen, jeder Selbstvergessenheit geht sofort ihr Schutzraum in die Brüche. Da braucht es eigentlich irgendwann keinen Tschaikowsky-Walzer mit Seifenblasenregen und erstarrt gen Himmel gereckten Gesichtern mehr, um zu verstehen: Weder Rührseligkeit noch Rave taugen als Zeitkapseln.

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