: Realismus, Schnodder und die falschen Lacher
Mit Sven Regeners „Neue Vahr Süd“ bringt das Schnürschuh-Theater den Bremischsten Berlin-Roman aller Zeiten leider arg verulkt auf die Bühne
Von Jens Fischer
Formschön verwirbeln Atomexplosionen unschuldigen Staub zu wuchernden Pilzformationen – auf einem historischen TV-Gerät. Kriegs- und Demokrawalllärm gibt es als Soundtrack dazu. Auf der Bühne erheben sich lemurenhafte Wesen in funzeligem Albtraumlicht. Anschwellende Techno-Beats werden ins Geschehen gepumpt. Dazu lärmt gitarrierte Aggression. Die Figuren nehmen militärisch Haltung an, Stroboskoplicht zuckt, Schüsse knallen. Allgemeines Zusammensinken. Black. So eindrücklich hebt die Schnürschuh-Theater-Inszenierung von Sven Regeners Roman „Neue Vahr Süd“ an und legt nahe, dass sogleich in surrealen Bildern eine im Kalten Krieg induzierte Angstneurose analysiert wird, die den Wandel Frank Lehmanns zum Pionier Lehmann, Genossen Frankie und schließlich zu Herrn Lehmann erklären könnte. Wird endlich verständlich, warum er Held seiner inneren Trägheit wurde und Vorbild ziellos glücklicher Verweigerer des Erwachsenwerdens ist?
Was erst mal überzeugt, ist das Bühnenbild. Mehr als 50 leere Becks-Kisten und reichlich effektvolle Lichtstimmungen braucht es nicht, um alle Spielräume der Geschichte vorstellbar zu machen – und gleichzeitig aufs Finale der Regener’schen Romantrilogie zu verweisen: Lehmann als Becks-Trinker-Ikone Kreuzbergs. In der chronologisch entwickelten Aufführung ist sein Leben aber noch im überschaubaren Großraum Bremen verortet: zwischen dem Schulzentrum Kurt-Schumacher-Allee, Chillen an der Berliner Freiheit, Party im Viertel und Grundwehrdienst in Dörverden. Denn in seiner verpeilten Art hat es der Protagonist nach dem Abitur komplett verpennt, die Ausbildung zum mordbereiten Soldaten zu verweigern und wird also zur Bundeswehr eingezogen.
Wie er zuckt auch das Publikum zusammen. Ein Brüllaffe (Holger Spengler) in Uniform zeigt, wie Schikanieren funktioniert und befiehlt stumpfsinnige Tätigkeiten. Ein Kollege (Ulrike Knospe) verleiht mit feist arrogantem Understatement seiner Befehlsgewalt und Gehorsamserwartung Nachdruck. Witzfiguren des militärischen Geistes sind beide. Bei Lehmanns daheim schwingt Mama zum Gymnastikprogramm des Fernsehens ihren Körper, Papa widmet Franks Jugend- zum Bastelzimmer um: Eltern als nette Spießerklischees.
Klar, dass es den jungen Mann weder in der Kaserne noch in der Vahr hält – er weiß nur nicht wohin mit sich, treibt so dahin und bezieht dann einfach mal probeweise bei Kumpel Martin (Mathias Hilbig) am Sielwalleck ein versifftes WG-Durchgangszimmer, wo sich Post-68er mit ihren letzten Politzuckungen im K-Gruppen-Jargon befehden.
Eher Gags als Figuren sind es. Hinzu gesellt sich noch ein Rock-’n’-Roll-Proll: blonde Langhaarperücke, Lederjacke, stets interessiert an Saufen, Sex und Späßen. Frank schlurft durch die Milieus dieser Aktivisten, ist als Passivist aber nirgendwo dabei. Obwohl er Gewissheiten sucht – er möchte beeindruckt und überzeugt werden. Aber das Angebot ist halt mau – nur diese restaurative Lust am Autoritären, eine gesicherte Selbstaufgabe im Kleinbürgertum, halbstarker Hedonismus oder wichtigtuerische Politphrasendrescherei. Klar, dass Querdenker Frank dem Trash-Personal bald entsagt und mehr Optionen bei seinem großen Bruder in Berlin erhofft.
Temporeich und mit der angedeuteten Traumlogik könnte all das ein prima Panoptikum der gruselig verwirrten 1980er-Jahre ergeben: satirisch verzerrte Erinnerungen in der Rumpelkammer des Lehmann’schen Hirns. Aber dazu fehlen Rasanz und grotesker Zugriff. Auch inhaltlich wird keines der angebotenen Themen mit Theatermitteln erforscht. Regisseur Helge Tramsen reiht vielmehr Sketche zur groben Nacherzählung des 582-seitigen Buches aneinander. Der Abend erinnert an Improtheater. Als hätte Probenbesucher Worte wie Dialektik, Klassenfeind, KBW, Nato-Doppelbeschluss auf die Bühne gerufen sowie das Absingen der Internationalen gewünscht – und die Darsteller zum avisierten Zeitkolorit ein paar Szenen im Stil der Nostalgieklamotte entwickelt. Die nach oben offene Lachskala zeigt bei der Premiere dann auch den größten Ausschlag, als Frank sich einer Sturzbetrunkenen hinzugeben bereit ist – und kurz darauf ihre Kotze aus seinem Gesicht wischen muss.
In dieser Welt der schrillen, lautstark von den Schauspielern verulkten Typen ist Frank dank seiner Schwerfälligkeit der einzige Mensch. Pascal Makowka nimmt seine Darstellung angenehm zurück, beglaubigt innere Leere und äußere Ratlosigkeit des höflich renitenten Kauzes.
Passend dazu könnte die Regie die literarische Lakonie Regeners in eine theatrale verwandeln. Das Reizvolle der episch wuchernden Vorlage ist ja, dass die Dialoge als transkribierte O-Töne und die Beschreibungen geradezu authentisch protokolliert erscheinen. Im Design dokumentarischer Unschuld entfalten sie ihre Komik. Bundeswehralltag, das Kriegsdienstverweigerungsritual, Revoluzzer-Geschwätz und Experimente mit offenen Zweierbeziehungen müssten nur genau beschrieben werden, um den Aberwitz kenntlich zu machen. Der schnoddrige Realismus Regeners passt eigentlich zum Inszenierungsstil des Schnürschuh-Teams. Umso erstaunlicher, dass die Dramatik an Comedy-Effekte verschenkt wird. Alles scheint gleich lächerlich.
Nur der scheiternde Versuch kuscheligen Miteinanders wird zum Mitfühlen angeboten. Der im Rahmen seiner Ressourcen zum Gefühlsüberschwang verliebte Frank singt „Boys don’t cry“ (The Cure) im Duett mit der angehimmelten Sibille (Andrea zum Felde), die ihm gerade wegen eines anderen den Laufpass gegeben hat. Er intoniert in drömeliger, sie in verheißungsvoller Melancholie: warmherzig romantisch. Aber für diesen mit Zeit- und Lokalgeschichte politisch aufgeladenen Schelmenroman und nach dem viel versprechenden Prolog ist das deutlich zu wenig.
Wieder: 17. 10., 19.30 Uhr; 21. 10., 19 Uhr; 26. 10., 19.30 Uhr; Schnürschuh-Theater
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen