: Mit fremden Menschen unter Linden liegen
Das Festival „Verlorene Illusionen“ des Jugendtheaterwerkstatt Spandau lädt zu Streifzügen und Begegnungen in Spandau ein
Von Linda Gerner
„Heimat ist, wo ich gemocht werde“, sagt eine weibliche Stimme, der eigene Blick schweift dabei über einen See. Spandau, Falkenhagener Feld. Um den großen Spektesee gehen Menschen spazieren, fahren Fahrrad, eine Familie picknickt.
Ein Spaziergang durch ein Naherholungsbiet. Im Ohr dabei vierzehn Menschen aus Spandau, die erzählen, was für sie Heimat bedeutet. Kommt mir vielleicht einer von ihnen gerade entgegen? Die Regisseurin Franziska Seeberg hat den Audiowalk „Heimatmuseum“ für das Theaterfestival „Verlorene Illusionen“ der Jugendtheaterwerkstatt (jtw) in Spandau konzipiert. Der Name ist angelehnt an einen Versprecher von Bundesinnenminister Horst Seehofer, doch es steckt Fragen dahinter: Für wen ist Heimat positiv besetzt und wer lehnt den Begriff ab? Welche Grundannahmen sollten aufgrund von gesellschaftlichem Wandel neu gedacht werden? „Das Interessante am Falkenhagener Feld ist, dass es eine große Diversität in der Bevölkerung gibt. Es gibt gerade viel Zuzug von Geflüchteten, was eine andere Dynamik schafft, weil dadurch auch die AfD hier sehr präsent ist“, sagt Franziska Seeberg.
Zu hören sind alteingesessene Spandauer*innen, geflüchtete Menschen, Ost- und Westberliner*innen, Jung und Alt. Da ist Jasmin, zwölf Jahre alt, die vor zweieinhalb Jahren mit ihrer Familie aus dem Iran nach Deutschland gekommen ist. Sie erzählt begeistert von ihrer Schule, von neuen Freunden und davon, dass sie zunächst Angst hatte, nicht gemocht zu werden, weil ihr Deutsch noch nicht perfekt sei. Für den Audiowalk übersetzt sie die Erzählung einer Frau aus Afghanistan ins Deutsche.
Heimat bedeutet für viele der Menschen eine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, an diesem Ort Freunde zu haben, Erinnerungen zu teilen. Auch Sprache schaffe Identifikation. Ein junger Mann erzählt, er habe im Deutschen einen polnischen Akzent und wenn er in Polen ist, hörten die Menschen seinen deutschen Akzent heraus.
Viele der Spandauer tun sich mit dem Heimatbegriff schwer: „Ich bin hier zu Hause, aber ich weiß nicht, ob ich gesagt hätte, Deutschland ist meine Heimat“, sagt ein Mann mit jugoslawischem Migrationshintergrund. Eine ältere, in Spandau geborene Frau „kann mit dem Begriff nichts anfangen, tut mir leid“. Eine andere Frau erzählt, dass sie in Brasilien geboren sei, einen türkischen Namen hätte und einen deutschen Pass: „Ich bin ein Weltmensch“, resümiert sie.
Das Naherholungsgebiet und das jtw sind dabei in dem von Julia Schreiner konzipierten Festival „Verlorene Illusionen“ nur zwei der Stationen. Für die anderen Performances, Installationen und Theaterstücke müssen über Spandau verteilte Orte aufgesucht werden: ein syrischer Geschichtenerzähler integriert sein Programm in einen alltäglichen Cafébetrieb, eine inklusive Theatergruppe spielt ihr Stück „Leises Gewühl“ im zentral gelegenen Münsinger Park vor dem Rathaus Spandau.
Dort widmen sich die altersgemischten Spieler*innen der fehlenden Verbindung von Menschen zur Natur und natürlich auch zueinander. Im Rahmen des Festivals hört man Spandauer Geschichten und läuft auch mitten durch sie hindurch, man liegt manchmal mit fremden Menschen unter Linden und wird dabei von Passant*innen neugierig beäugt und befragt.
Die zum Festival gehörenden Spaziergänge und Fahrradtouren sind eine charmante, unaufdringliche Art, in den Ort einzutauchen. Die Unmittelbarkeit der Darbietungen macht dabei den Reiz des Festivals aus. Die Anonymität der Berliner Nacht, die einen sonst verlässlich wenige Minuten nach Schlussapplaus empfängt, wird in Spandau aufgebrochen. Ein sympathisches Kontrastprogramm.
„Verlorene Illusionen“, bis 30. September, in und um das jtw Spandau, Gelsenkircher Straße 20, Berlin, Eintritt frei
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen