: Radikalisierte Radaubrüder
Abschiedsgeschenk mit Widerstandsgeist: Lars-Ole Walburg inszeniert zum Abschluss seiner Intendanz in Hannover Remarques Zwischenkriegsroman „Der schwarze Obelisk“
Von Jens Fischer
Abschied und Aufbruch, eine doppelte Feier: Mit seiner letzten Inszenierung als Hannovers Schauspielintendant eröffnet Lars-Ole Walburg die neue Saison – und lädt ein, sich für Erich Maria Remarques „Der schwarze Obelisk“ erst mal Kurpark-behaglich ins Parkett zu kuscheln.
Vor einer riesigen Konzertmuschel sitzt man, die traumschön illuminiert die gesamte Bühnenbreite einnimmt: Bekannt als Ort erholsamer Kulturdarbietungen für körperlich kränkelnde Bürger, wird sie hier genutzt als Ausstellungsort eines kleinstädtischen Gesellschaftspanoramas geistig und emotional kränkelnder Bürger. Die sind dank Frisur, Kleidung, Habitus zumeist als Karikaturen typisiert und dabei stets um Haltung und Präsenz bemüht, da sie der schaumstoffweiche Fußboden bei jeder Bewegung schwanken lässt.
So taumelt das Ensemble um ein ominöses Loch in der Bühnenmitte – eine Art grotesker Tanz auf dem Vulkan. Der dann losbricht. Geldscheinfontänen sprudeln aus dem Boden – Sehnsucht, Glücksgefühle, Entsetzen – sind es doch wertlose Zahlungsmittel: April 1923, galoppierende Inflation, ökonomische Krise. Überall offene Wunden und wütende Kriegstraumata. Also reichlich Anlässe zum wilden Verdrängen.
Aber das Jahrzehnt soll als ein goldenes gefeiert werden. „Man hat im Krieg an bürgerlicher Moral eingebüßt, aber das hat nur zynisch gemacht, nicht frei“, erklärt Ich-Erzähler Ludwig Bodmer. Mit ihm bespöttelt und analysiert Remarque die Zwanzigerjahre als Keimzelle des Faschismus.
Bei der Erstdramatisierung des Stoffes versuchte Regisseur Marco Štorman – 2015 in seinem Handlungs- und Remarques Geburtsort Osnabrück – den aufkommenden Nationalsozialismus mit dem Rechtspopulismus bei Pegida & Co. gleichzusetzen. Was historisch unsinnig ist und in Tateinheit mit totaler Dekonstruktion der Handlungschronologie krachend scheiterte.
Walburg denkt inhaltlich ähnlich, geht aber weitaus subtiler vor. Und humorvoller. Nachdem er formvollendet expressiv die Grauen des Ersten Weltkriegs mit „Im Westen nichts Neues“ (2014) auf die Bühne gewuchtet und das Thema Flucht anhand der Emigranten des Zweiten Weltkriegs kammerspielintim in „Die Nacht von Lissabon“ (2017) verhandelt hat, ist das Zwischenkriegswerk nun das Satyrspiel seiner Remarque-Trilogie.
Der Autor lässt seinen Ludwig noch aus den 1950er- auf die 1920er-Jahre zurückblicken, um zu warnen, dass in Zeiten der Atomwaffenaufrüstung erneut eine Nachkriegs- zur Vorkriegszeit werden könnte. Der Regisseur kappt diese Rahmung und zeigt Ludwig (Jonas Steglich) sowie seinen Kumpel Georg (Silvester von Hösslin) als coole Spätpubertierer und lebensgierige Identitätssucher. Vom Krieg um die Jugendzeit gebracht, gilt es, diese nun nachzuholen.
Geld verdienen die Freunde mit Grabsteinverkauf. Sie investieren es in Liebelei, Sex, Alkohol und Partys – um zu vergessen. Als sinnliches Dekadenz-Zeichen steht Burlesque-Tänzerin Tronicat la Miez auf der Bühne, demoralisierte Kriegsheimkehrer revitalisiert sie zu lustvollen Glotzern. Ein Männergesangsverein in Burschenschaftler-Uniform stimmt „Wir versaufen unser Oma ihr klein’Häuschen“ an. In die Popmoderne transferiert wird der Zeitgeist durch den Madonna-Hit „Material Girl“. Ein Ex-Feldwebel uriniert derweil an den Obelisken, der als phallischer Grabstein auch Mahnmal des Todes oder Kriegsdenkmal sein kann. Chronisch amüsiert genießen die Protagonisten das Geschehen.
Walburg gelingt es, aus der mal ironischen, mal sarkastischen Perspektive der verlorenen Generation ein Klima der Verunsicherung zu inszenieren. Denn 1919 hatten drei Viertel der Wähler für demokratische Parteien und damit für die Weimarer Republik gestimmt, andererseits rumort Hass, da sie aus militärischer Niederlage und Revolution der Arbeiter und Soldaten entstanden ist.
Wem das nicht passt, der sucht Sündenböcke. Hasstiraden werden gegen Juden, Bolschewisten, Sozialdemokraten ausgespuckt. Ewig Gestrige verleugnen die Schuld der wilhelminisch-imperialistischen Politik der Vorkriegs- und Kriegsjahre, empören sich über den „versklavenden“ Versailler Vertrag und ziehen aus dem Zusammenbruch der Monarchie den Schluss, Kaiser, Preußengeist und alte deutsche Siegerstärke zurückhaben zu wollen.
All das ist auf der Bühne zu erleben. Auch erste Vertreter der militanten neuen Rechten agitieren für eine nationale Diktatur. „Darf man nicht mal mehr seine Meinung sagen in einer Demokratie?“, ist dann so ein wutbürgerlicher Satz, der fällt.
Es sind diese kleinen, deutlich herausgearbeiteten Verweise auf die Aktualität des Stoffes, mit denen Walburg überzeugt. Weil er eben nicht behauptet, die Nazi-Dämmerung der Weimarer Republik wiederhole sich gerade, sondern zeigt, was passieren kann, wenn Orientierungen weg- und Ohnmachtsgefühle hervorbrechen – einst extrem dramatisch durch den Krieg, jetzt von Rechtsaußen dramatisch übertrieben durch den angeblichen Kontrollverlust des Staates angesichts von Flucht und Migration.
Was sich laut Walburgs Inszenierung zeitübergreifend ähnelt, sind daraus folgende Radikalisierungen. Wobei die muntere Beweisführung geradezu schwebend leicht im Kabarettton daherkommt. Ohne an Eindringlichkeit zu verlieren. Etwa wenn ein Kirchenvertreter während eines Disputs über christliche Werte gefragt wird: „Warum haben sie ihren Gläubigern nicht den Krieg verboten?“ Oder wenn Radaubrüder einen gewissen Hitler als großen Auskenner und Allesveränderer loben: „Köpfe werden rollen.“
Und erst recht, wenn eine zauberkomische Liebesgeschichte anhebt. Ludwig lernt bei einem Nebenjob in der Psychiatrie die schizophrene Geneviève als Isabelle (Caroline Haupt) kennen, die in ihrer Weltentrücktheit mit ganz eigener philosophischen Praxis experimentiert, das Leben zu verstehen. Ihre Verrücktheit wirkt hellsichtig in der irrsinnigen Zeit.
Wie Walburg aus solch eindringlichen Episoden ein Sittenbild webt, passt prima in die Konzertmuschel, weil das Ensemble so großartig aufeinander eingestimmt agiert, wie virtuose Musiker eines höchst inspirierten Sinfonieorchesters. Wer sich auf die komödiantisch bittere Kulinarik dieses Schauspielabends einlässt, wird unweigerlich mit dem politisch klar positionierten und dementsprechend effektvoll pointierenden Walburg-Theater konfrontiert. Ein Abschiedspräsent mit feinstem Widerstandsgeist.
Sa, 15. 9., 19.30 Uhr, Schaupiel Hannover. Weitere Aufführungen: 30. 9., 10./19./30. 10.
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