: Inklusion als Dauerbaustelle
Deutschland muss mehr tun für förderbedürftige Kinder, sagt eine Studie der Bertelsmann Stiftung
Von Jonas Weyrosta
Manchmal verraten die kleinen Worte das Wesentliche. In diesem Fall: unterwegs. Nirgendwo angekommen, nichts erreicht. So – bildlich gesprochen – steht es um die Inklusion von Förderschülern in reguläre Schulen. Und so lautet auch der Titel einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung: „Unterwegs zur inklusiven Schule“.
Der Anteil der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Förderschulen hat sich in Deutschland von 2008 auf 2017 um nur 0,6 Prozent verringert. Diese Exklusionsrate, sagt Klaus Klemm, Bildungswissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen und Autor der Studie, erfasst den Anteil der Schüler, die deutschlandweit separiert in Förderschulen unterrichtet werden. 2017 waren das 4,3 Prozent aller schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen der Primar- und Sekundarstufe. Einfach gesagt: 4,3 Prozent aller Schüler werden in Förderschulen und nicht in Regelschulen unterrichtet. 2008 waren es 4,9 Prozent. Deutschlandweit wurden damit 42.000 Schüler weniger an Förderschulen geschickt.
Kein echter Fortschritt in neun Jahren. Zudem gilt dieser schwache Positivtrend in erster Linie für den Förderbedarf „Lernen“, also die Inklusion von Schülern mit Beeinträchtigungen im Lern- und Leistungsverhalten. Verschlechterungen gab es in den vergangenen neun Jahren hingegen bei der Inklusion hörgeschädigter und blinder Schüler sowie bei Kindern mit geistigen Behinderungen.
Deutschland hat vor zehn Jahren die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet, in der es heißt: „Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und angemessene Vorkehrungen getroffen werden müssen, dass jeder Schüler mit Behinderung die notwendige Unterstützung für eine erfolgreiche Bildung erhält.“
Einzelne Bundesländer indes verzeichnen Fortschritte, Bremen zum Beispiel. Dort liegt die Exklusionsrate bei 1,2 Prozent, im Bundesvergleich ist das der Spitzenwert. Es folgt Schleswig-Holstein mit 2,1 Prozent und Berlin mit 2,8 Prozent. Besonders schlecht um die Inklusion steht es hingegen in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Sachsen.
Inklusion an Schulen scheitert vielerorts, so das Fazit der Studie, an der fehlenden Unterstützung für die Lehrkräfte. Die Klassenzimmer in deutschen Schulen seien zwar deutlich heterogener geworden. Gleichzeitig aber wachse „das Unbehagen an der Inklusion in vielen Lehrerzimmern. Denn vielerorts werden Lehrkräfte noch zu wenig dabei unterstützt, mit dieser steigenden Vielfalt in den Klassen umzugehen.“ In vielen Kollegien fehlt die sonderpädagogische Kompetenz, damit die Lehrkräfte den unterschiedlichen Leistungsniveaus gerecht werden können.
Bildungsexperte Klemm kritisiert, dass Politik und Medien oft die falschen Indikatoren in den Blick nehmen. Man dürfe nicht auf den Anteil förderbedürftiger Schüler an Regelschulen schauen, sondern auf den Anteil jener Schüler, die mit Förderbedarf an Förderschulen unterrichtet werden.
Doch der vielerorts rasante Anstieg dieser Quote erklärt sich im Wesentlichen daraus, dass in den allgemeinen Schulen bei einer wachsenden Zahl von Kindern und Jugendlichen ein sonderpädagogischer Förderbedarf diagnostiziert wurde, auch bei Schülern, die schon früher an Regelschulen unterrichtet wurden.
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