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Verzweiflung als angemessene Haltung

Die 30. Ausgabe des Berliner Tanztheaterfestivals Tanz im August endet mit der Frage von Jugendlichen nach sozialer Verantwortung

Szene aus „Paradise Now“ (1968–2018), Fabuleus/Michiel Vandevelde Foto: Tanz im August/Clara Hermans

Von Astrid Kaminski

Zu manchen Körpern baut der eigene eine sensuelle Spannung auf, zu anderen nicht. Das kann schön sein, aber auch tragisch. Wer mit wem? Die Frage kann Panik in Kinderaugen auslösen. Übrig zu bleiben: ein Stigma. Statusfragen bilden sich in der Kindheit nicht selten an Körperfragen. Jemand hat fettige Haare, Schuppen, ist pummelig oder nur uncool gekleidet.

Zwar verschiebt sich im späteren Leben die Toleranzgrenze im besten Fall, der Effekt von fremden Körpern auf den eigenen aber bleibt. Ist es nicht so, dass die Nachbarn im Flugzeug das Energielevel einer Reise mitbestimmen? Man kriecht in sich hinein oder bekommt eine Vitalität, Gestimmtheit.

Eine der sozialästhetischen Errungenschaft des Tanzes ist es, Techniken entwickelt zu haben, um sich solchen Situationen nicht ausliefern zu müssen. Die Energie des anderen wahrzunehmen, den Körper in seinen Sensitivitäten, Bedürfnissen, Fähigkeiten und Einschränkungen zu begreifen, respektvoll zu berühren und herauszufordern, ist inzwischen so etwas wie der kategorische Imperativ, der aus dem Innern vieler zeitgenössischer Tanzstudios auf die Bühnen dringt.

So wie sich der eigene Körper im teilnehmenden Beobachten ein Stück weit verliert, lässt sich, wer wahrgenommen wird, durch den Blick des anderen ein Stück weit in den eigenen Körper sinken. Wenn diese Art von Miteinander, für das inzwischen unterschiedlichste „Care“-Praktiken entwickelt wurden, nun wie in „Paradise Now (1968–2018)“, einem der Abschlussstücke des Festivals Tanz im August, auf Jugendliche angewendet wird, wirft das erst einmal Fragen auf.

Wie viel Sensibilität, Zärtlichkeit, Rücksicht, Einfühlungsvermögen kann dem sexuell noch nicht autonomen Körper zugemutet werden? Michiel Vandevelde und das Theater- und Tanzzentrum Fabuleus haben sich diese Fragen mit dreizehn körperlich sehr unterschiedlichen Jugendlichen aus dem belgischen Leuven gestellt.

Sie liegen einander halbnackt in den Armen, werden vor der Brust des anderen gehalten, liebkost, gedrückt, gewiegt. Folie für dieses Gruppenidyll, das eine Gruppenorgie andeuten könnte, liefert eine Aufführung, die bereits im Titel von Vandeveldes Experiment enthalten ist: das Anarchie- und Anti­vietnamkriegs-Stück „Paradise Now“ des US-amerikanischen Living Theatre, das, nachdem es in den 1950ern Bertolt Brecht oder Gertrude Stein gespielt hatte, zu 68er-Zeiten mit postdramatischen Stückentwicklungen durch die Welt tourte.

Die beschriebene Gruppenszene der Jugendlichen dauert nur kurz, aber sie steht in ihrer Exponiertheit zentral für den Umgang der Performer*innen mit ihrem Stoff: Es ist eine Art diskrete Hingabe. Sie pumpen sich weder auf, noch gehen sie auf Distanz: Sie gehen weit genug hinein, um die Energie der Konstellationen zu spüren, aber sie eignen sich die Szenen weder an, noch verlieren sie sich darin. Null Pathos.

Dieses seltsame Alternieren ist auch dann spannend, wenn sie 50 Jahre medialer Pop- und Kriegsgeschichte anhand von nachgestellten Bildern und Internetmemes engführen. Vom Women March auf Washington über Alan Kurdi, Abu Ghraib, Britney Spears und 9/11 zu Ruanda, Jane Fonda und Vietnam. Dass hier eine Generation am Werk ist, die Grimassenschneiden gelernt hat, die Maskenstudium mit Foto-Apps und Reaction-Videos betreibt, ist klar.

„We are the world, we are the ch…“, so tönt es aus den Lautsprechern, so bricht es ab, während die experimentellen dreizehn in fluo- bis pastellfarbener Ton-in-Ton-Garderobe ihr Weltbild in pantomimische Stills bringen. Sie wirken wie Menschen, die gelernt haben, nicht an das zu glauben, was sie tun. Am Ende laden sie das Publikum auf die Bühne ein, das Licht wird gedimmt, die Bilderwelt erlischt. Die Jugendlichen sprechen sehr souverän Sätze, die nicht nach den Sätzen Jugendlicher klingen und die trotzdem sehr nah an ihnen dran scheinen.

Von „Demokratie, die vorbei ist“, von „keiner Alternative“, von „Erschöpfung“ als mögliche Basis einer neuen Solidarität, von „Mut der Verzweiflung“ und von „Verzweiflung als einzig angemessener intellektueller Haltung unserer Zeit“ sowie von Freude als „ein neuer Grad der Freiheit“ ist die Rede. Es ist eine dichte, eigentümliche Situation, in einen Raum eingeladen zu werden, dessen Gastgeber*innen selbst Gäste sind. Jugendliche, die ein kulturelles Angebot wahrnehmen, das durch die Generation der Zuschauer*innen geschaffen wurde, die dabei durch einen Lernprozess gegangen sind, der sie mit sich selbst konfrontiert, und die diesen Zustand, ohne Forderungen zu stellen, mit uns teilen.

Sie sprechen Sätze, die nicht nach ihren klingen

Mit dieser alterierenden Setzung eines körperpositiven Miteinanders zwischen Selbst- und Fremdbestimmung bildet „Paradise Now (1968–2018)“ am Ende von Tanz im August eine gute Klammer um ein Festival, dessen ästhetische Diversität streckenweise trotz gut gemachter Stücke etwas nach Gemischtwarenladen aussah. Von konventioneller Neoklassik bis Critical-Whiteness-Ansatz, von Spektakel- und Maschinentanz zu B-Boying, von tänzerischen Installationen über Tanztheater zu Pantomime. Die Bandbreite, die Festivalleiterin Virve Sutinen im 30. Jahr des Festivals geboten hat, gab sicherlich einen Überblick über das Spektrum internationalen Tanzes, es war jedoch bei so manchem Stück nicht so ganz klar, warum es im Programm war. Nicht jedes schön getanzte Stück, das noch nicht in der deutschen Hauptstadt war, muss auch hier mal über die Bühne gehen.

In anderen Fällen war es einfach auch eine Portion Pech: Dass sich Robyn Orlin mit „Oh Louis“ und Alan Lucien Øyen mit „Neues Stück II“ für das Tanztheater Wuppertal in Pie­tätlosigkeit überbieten würden, stand zum Zeitpunkt der Einladung noch nicht fest. Orlin scheiterte an der Aufarbeitung des „Code Noir“ aus den Zeiten des Sonnenkönigs Louis XIV., Øyen an der Größe des Unterfangens, sich mit Tod in seiner ganzen Spannbreite vom natürlichen Ende bis zum Suizid auseinandersetzen zu wollen.

Dass sich auch ohne ein übergeordnetes kuratorisches Thema trotzdem Fäden ergaben, wirkt dennoch nicht zufällig. So lässt sich das Unterweltstück „Medusa Bionic Rise“ der Berliner Gruppe The Agency, das im Bühnenkeller des Hauses der Berliner Festspiele als zweites Eröffnungsstück stattfand, gut mit „Paradise Now“ zusammendenken. In einer Post-Internet-Influencer-Ästhetik (mit vielleicht etwas viel Cyberpunk-Anleihen) war es dem Thema Körperoptimierung gewidmet und benutzt als subversives Element einen ähnlichen Freiheitsmoment, wie jenen, den die belgischen Jugendlichen betasteten: körperlichen Genuss.

Wenn diese aus queerem Self­empowerment gewonnene Ästhetik nun langsam in den Mainstream durchdringt, wirft das jedoch, das wurde in Silvia Gribaudis Nummernrevue „R. OSA_10 EXERCISES FOR NEW VIRTUOSITIES“ deutlich, auch neue Problematiken auf: Sobald die Freude am eigenen Körper zum repräsentativen Moment wird und möglichst noch in simplen Animationen aufs Publikum überspringen soll, wäre dringend eine klare Abgrenzung zu „Kraft durch Freude“-Ideologien nötig.

Vielleicht ist in dieser Hinsicht der von der Choreografin Aydin Teker in der Performance „Hallo“ vom Hometrainer aus betrauerte „Gezi-Moment“ weniger ein Verlust als ein Anspruch: an die Bedingungen für ein bedingungsloses Miteinander.

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