: Testament der Möglichkeiten
Waren Konzeptkunst, Installation und Performance typischer für die Westberliner Kunst der 1980er als Malerei und Musik? Jedenfalls nutzten Künstler exzessiv die Freiräume in der Stadt. Einen Überblick verschafft die Ausstellung „Berlinzulage“ im Künstlerhaus Bethanien
Von Tilman Baumgärtel
Anfang der 1980er Jahre war das am südlichen Ende des Tiergartens gelegene Botschaftsviertel eine verwunschene Gegend voller zugewachsener Dornröschenschlösser. Die ehemalige Dänische Botschaft, ein prachtvoller Bau aus den 1930er Jahren, gehörte dem mafiösen DGB-Wohnungsunternehmen Neue Heimat, die das Gebäude vollkommen vernachlässigt hatte. Die Inneneinrichtung war verwüstet, nachts teilten sich Fledermäuse den Bau mit Stadtstreichern. Der Berliner Künstler Raffael Rheinsberg richtete sich hier 1982 einige Monate lang illegal ein Atelier ein. Er sammelte verkommenes Mobiliar und kaputte Einrichtungsgegenstände, aus denen er Installationen schuf. Als „Botschafter von Tiergarten“ feierte er in der Botschaft Feste und organisierte Führungen durch die ehemaligen Botschaften, an denen bis zu 500 Menschen teilnahmen.
So war das Westberlin der Achtziger: eine heruntergekommene, sterbende Stadt, die aber reich an Brachen und Nischen war, in denen man sich mit geringen Mitteln künstlerisch verwirklichen konnte. Mitte der Dekade hatte die Bevölkerung Westberlins mit 1,85 Millionen einen historischen Tiefstand erreicht, wurde aber gleichzeitig zum Anziehungspunkt für eine Subkultur von Bundeswehrflüchtlingen, Politniks, Dauerstudenten und Lebenskünstlern. Die Hausbesetzungen sowie das Aufkommen von Punk und New Wave trugen zum Entstehen einer Kunstszene bei, die die düsteren Impulse der grauen und noch immer vom Zweiten Weltkrieg gezeichneten Stadt aufnahmen. Die Ausstellung „Berlinzulage“ im Künstlerhaus Bethanien zeigt nun einen Überblick über die Kunst, die in dieser Zeit entstand.
Dabei übergeht sie die „Wilde Malerei“ von Künstlern wie Salome oder Rainer Fetting und auch die Musikszene dieser Zeit, die an anderer Stelle bereits hinreichend gewürdigt wurde, und konzentriert sich auf Konzeptkunst, Installation und Performance, die – so die These der Kuratoren Christoph Tannert, Anne Peschke und Morek Pisosky – in vieler Hinsicht typischer für die Westberliner Kunst der 80er Jahre war als Malerei und Musik, wegen ihres oft ephemeren Charakters allerdings weniger gut dokumentiert und deswegen auch oft vergessen.
Viele der gezeigten Arbeiten beziehen sich auf den abgerockten, öffentlichen Raum der Stadt mit seinen Freiflächen und seiner Verwahrlosung. Da sind zunächst einmal die Fotos von Michael Hughes, die im umfangreichen Katalog zum ersten Mal veröffentlicht werden und ein vollkommen desolates Westberlin zeigen: ein Panzer auf dem Kurfürstendamm, der abgebrannte Kreuzberger Bolle-Supermarkt nach der Randale am 1. Mai 1987, eine polizeiliche Räumung des Kinderbauernhofs an der Adalbertstraße, die beschmierte Fassade des neugebauten Schwimmbads am Spreewaldplatz, Häuser in der Oranienstraße, die aussehen, als sei es Mai 1945.
Viel von dem Verfall war den Aktivitäten von Spekulanten geschuldet, wie die Arbeit „Skulptur Böckstr. 7, 3 OG“ von Olaf Metzel klar macht: der Künstler verzeichnete auf der Tapete einer dem Verfall preisgegebenen Fabriketage Quadratmeterpreise, Grundrisse und Investorennamen.
Natürlich spielt auch die Mauer eine wichtige Rolle: Der Feuerkünstler Kain Karawan zündete sie an, Jakobine Engel filmte und fotografierte sie von beiden Seiten für die Videoinstallation „Grenzgänger“ – auf der Ostberliner Seite ein riskantes Unterfangen, das auch in einer Wache der Volkspolizei hätte enden können. Noch eindrücklicher sind ihre Aufnahmen von den „Geisterbahnhöfen“ unter Ostberlin aus der fahrenden U-Bahn.
Die „Berlinzulage“ war übrigens eine der finanziellen Segnungen, mit welchen den Westberlinern nach dem Bau der Mauer ihr Verbleiben in der eingeschlossenen Stadt angenehmer gemacht werden sollte. Das „Fehlen eines Hinterlands“ wurde durch einen achtprozentigen Lohnaufschlag kompensiert. Das Künstlermilieu Westberlins, das keiner regelmäßigen Arbeit nachging, profitierte zwar nicht von dieser Vergünstigung. Aber auch die freigiebige Unterstützung von Kunst und Kultur gehörten zu den Maßnahmen, die Westberlin attraktiv machen sollten. Sie trug auch zum Entstehen der hier präsentierten Kunstszene bei, die in vielen Arbeiten die Bohemeexistenz in der Halbstadt feierte, wie zum Beispiel Rosa von Praunheim in seinem Film „Stadt der verlorenen Seelen“, in der sich eine fidele Gruppe von Transsexuellen in einer Art Trashmusical inszenieren. Wie der Comic über das „Bartfräulein Florett“ von Tabea Blumenschein und die Performances des künstlerischen Autodidakten Käthe Be nehmen sie die Genderthematik voraus, die in der Gegenwartskunst eine so wichtige Rolle spielt.
Aber auch eine Arbeit wie die No-Budget-Produktion „Jesus. Der Film“ von Michael Brynntrup ist Testament der Möglichkeiten, die das Leben in der Stadt bot, in der die Existenzsicherung noch nicht der Kampf war, der er inzwischen geworden ist: Eine Gruppe von mehr als zwanzig KünstlerInnen und Kollektiven drehte ohne Bezahlung auf Super-8-Material Episoden aus dem Leben Jesu. Der Film ist nicht nur in der Ausstellung zu sehen, sondern auch im Rahmen einer Filmreihe im FSK-Kino, bei der auch andere zentrale Werke dieser Zeit wie „Nekromantik“ von Jörg Buttgereit und „Fucking City“ von Lothar Lambert zu sehen sind.
Die Kunstszene der Achtziger ist spätestens seit dem Erscheinen von Wolfgang Müllers Buch „Subkultur Westberlin 1979–1989. Freizeit“ zu einem Mythos geworden, der mit jedem Jahr und jeder weiteren Schließung von selbstorganisierten Kulturräumen, jedem luxussanierten Altbau und jeder erneuten Mieterhöhung heller erstrahlt. Die Zeit, in der man in Berlin mit wenig Geld als Künstler überleben und Kunst ohne Marktwert schaffen konnte, mögen das Westberlin von einst wie einen begehrenswerten Abenteuerspielplatz erscheinen lassen.
Doch der Verfall und der Muff, den viele der gezeigten Arbeiten – gewollt oder auch nicht – reflektieren, erlauben auch die Frage, ob man sich dieses Berlin wirklich zurückwünscht. Und auch wenn die Situation Westberlins in den 80er Jahren so ideal für kreative Arbeit erscheint, haben viele Künstlerkarrieren den Untergang dieses Biotops nicht überstanden.
Die Arbeit „Gebrochenes Deutsch“ aus zersplitterten Straßenschildern aus Ostberlin von Raffael Rheinsberg verweist denn auch auf das Ende dieser Epoche, und den Beginn eines anderen Jahrzehnts, in dem eine neue Generation von Künstlern sich zeitweise in anderen Trümmern einrichtete und neuen Brachen und Freiräume entdeckte.
Wer die Ausstellung sehen will, sollte sich übrigens nicht zu viel Zeit lassen. Denn die aufwendig vorbereitete Präsentation ist nur gut drei Wochen zu sehen.
„Berlinzulage. West-Berlin / Kunst / 1980er Jahre“, bis zum 16. September im Künstlerhaus Bethanien, Kottbusser Damm 10
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