Szenen nach dem Ende einer Ehe
Der verzweifelte Versuch, den Gravitationskräften des persönlichen Traumas zu entfliehen: „Nach dem Urteil“, das brillante Regiedebüt von Xavier Legrand
Man weiß nicht, was geschieht, und spürt doch die tiefe Unruhe, die hinter den scheinbar banalen Vorgängen liegt
Von Ekkehard Knörer
Das Urteil selbst, wie es gesprochen wird, sieht man nicht. Was man sieht: die Frau, der Mann, das Paar, das keines mehr ist, vor der Richterin, die über das Sorge- und Besuchsrecht für die Kinder entscheidet. Die Anwältin des Manns (Denis Ménochet) legt den Fall aus dessen Sicht dar, der Mann sagt nicht viel. Die Anwältin der Frau (Léa Drucker) legt den Fall aus deren Sicht dar, die Frau sagt nicht viel.
Verlesen wird die Aussage des etwa zehnjährigen Sohns (Thomas Gioria), der mit dem Vater nichts zu tun haben will. Die ältere Tochter (Mathilde Auneveux) ist fast erwachsen und kann selbst entscheiden – auch sie will, dass der Vater sich fernhält. Der Vater sagt, dass die Mutter die Kinder gegen ihn aufgehetzt hat. Die Richterin muss ein Urteil fällen. Man hat die beiden jetzt zehn Minuten gesehen, die Kamera wechselt sehr bewusst recht oft die Perspektive. Man möchte nicht in der Haut der Richterin stecken.
Die Bessons: eine ganz normale zerrüttete Ehe. Das Urteil, das man nicht sieht, aber erschließen kann aus dem, was weiter geschieht: Der Vater, Antoine, hat das Besuchsrecht bekommen, am Wochenende holt er den widerstrebenden Sohn Julien ab. Antoine ist äußerlich ein Mann wie ein Bär. Die Frau, Miriam, wirkt zugleich entschlossen und ängstlich. Zu sagen, was sie im Inneren aufwühlt, ist weder dem einen noch der andern gegeben. Beide sind verstört von dem, was ihnen widerfahren ist und widerfährt, aber „Nach dem Urteil“, das Regiedebüt des Schauspielers Xavier Legrand, ist alles andere als ein Konversationsstück, das diese Verstörung in Erklärungen, die sich aussprechen lassen, entfaltet.
Was man sieht, sind Szenen nach dem Ende einer Ehe. Versuche, die Trümmer zu sammeln. Versuche, irgendwie weiterzumachen. Miriam sucht und findet eine neue Wohnung für sich und die Kinder. Joséphine, die Tochter, muss sehen, wie sie den Schulabschluss mit der Musik und der Liebe zu Samuel verbindet. Man sieht, wie sie einen Schwangerschaftstest macht. Vielmehr sieht man es nicht. Was man sieht, ist der Spalt unter einer öffentlichen Toilette, man sieht die Schachtel, die zu Boden fällt. Man sieht nicht Joséphines Reaktion, man kann sich nur erschließen, dass der Test positiv ist.
Der Film zeigt eine Familie, die den Gravitationskräften des persönlichen Traumas zu entfliehen versucht. Und er zeigt die Kräfte, die das verhindern. Man sieht Vater und Sohn im Auto, den Sohn, der die Nähe des Vaters nicht will, man sieht den Vater und seine Aggression, oder man hört sie: im Piepen des Wagens, weil der Vater den Gurt nicht anlegen will. Die längste Szene spielt auf der Geburtstagsparty der Tochter. Man sieht, wie Mutter und Tochter, die Tochter und ihr Freund und andere miteinander interagieren, man hört aber nichts, die Musik liegt darüber. Draußen lauert, wie ein wildes Tier, der Vater. Man weiß nicht, was hier genau geschieht, und spürt doch die tiefe Unruhe, die hinter den scheinbar banalen Vorgängen liegt. Der Showdown am Ende trifft einen dennoch als Schock.
„Nach dem Urteil“ ist die Ausarbeitung eines preisgekrönten Kurzfilms, den Legrand mit weitgehend derselben Besetzung gedreht hat. Der Gefahr, etwas, das konzentriert schon perfekt war, auf der längeren Strecke nur zu verdünnen, entgeht er brillant.
Er erklärt nichts, bringt nichts auf den Begriff. Er nutzt die Zeit vielmehr für Verschiebungen von Valenzen. Es gelingt ihm, Unklares, Uneindeutiges, die Unlösbarkeit dieser Verstrickung nicht in Worte, auch nicht in einzelne Bilder, sondern in mit Genauigkeit und Geduld entwickelte Szenen zu fassen, denen man zunehmend atemlos folgt.
„Nach dem Urteil“. Regie: Xavier Legrand. Mit Léa Drucker, Denis Ménochet u. a. Frankreich 2017, 94 Minuten