: Wir gehören zu diesem Land
Uri Avnery kämpfte gegen die Briten und die arabischen Armeen. Er war Friedensaktivist und Zionist: Israel und Palästina sollten friedlich koexistieren. Ein Nachruf
Von Susanne Knaul
Er war gerade 77 geworden, als Uri Avnery vom Rednerpult bei einer Demonstration in Tel Aviv kundtat, dass er nicht vorhabe, zu sterben, bevor es Frieden geben würde. Daran ist er nun gescheitert, dennoch hat Avnery tiefe Spuren hinterlassen. Am Montag starb Israels unermüdlichster Friedensaktivist im Alter von 94 Jahren in Tel Aviv.
Gesundheitlich war Avnery bis kurz vor seinem Tod fit. Auch äußerlich schien er seit Jahrzehnten kaum gealtert zu sein. Mit seinen vollen hellgrauen Haaren und dem Bart konnte man ihn schon von Weitem erkennen, wenn er flotten Schritts ums Haus spazierte, am liebsten mit deutschen Militärmärschen in den Kopfhörern oder englischen Volksliedern.
Avnery liebte es, den Konsens der israelischen Gesellschaft zu durchbrechen, und er schreckte bisweilen auch nicht davor zurück, Gesetze zu ignorieren. Als erster jüdischer Israeli traf er 1982, noch während des Krieges zwischen Israel und dem Libanon, den Chef der Palästinensischen Befreiungsorganisation, Jassir Arafat, in Beirut. Arafat unterbrach ihn damals mitten im Satz: „Ein Staat“, so lautete das Ziel der PLO damals noch. Avnery war hingegen Zionist. Ihm schwebte die Zweistaatenlösung vor: Israel und Palästina in friedlicher Nachbarschaft.
Der Mann, „den die Israelis zu hassen lieben“, wie der Filmemacher Jair Lev in einer Dokumentation sagt, wurde als Helmut Ostermann geboren, er hatte einen älteren Bruder. „Ich war sehr bewusster Beobachter dessen, was in Deutschland passiert ist“, erzählte er in einem Interview. Die Eltern waren das ebenso, deshalb entschlossen sie sich im Jahr der Machtergreifung Hitlers zum Umzug von Westfalen nach Palästina. Die vier Familienmitglieder sind die einzigen der gesamten Familie, die nach dem Krieg noch am Leben waren.
Schon als 14-Jähriger begann der Junge, mit Gelegenheitsarbeiten die durch den Umzug verarmte Familie zu unterstützen. Vater Ostermann war in Deutschland Bankier gewesen; in Palästina musste er in einer Wäscherei arbeiten. Gelesen – vor allem in Geschichtsbüchern – wurde abends. Um Palästina von den britischen Mandatsherren zu befreien und die Juden im Land vor arabischem Terror zu schützen, schloss sich Helmut schon als Jugendlicher der radikalen Untergrundbewegung Irgun an und wechselte erst während des Unabhängigkeitskrieges zur Hagana, dem Vorgänger der israelischen Armee.
Seine Kriegserlebnisse verarbeitete er zu einem ersten Buch, das ein Bestseller wurde. Uri Avnery, wie er sich inzwischen nannte, avancierte zum Volkshelden. Den jungen Autor irritierte der Erfolg. Er fühlte sich missverstanden und schrieb ein weiteres Buch. „Die Kehrseite der Medaille“ erzählt von den Schrecken der Kämpfe, vom Tod und von der Skrupellosigkeit der Politiker – Dinge, die damals niemand hören wollte. Avnery wurde binnen kürzester Zeit in weiten Teilen der Bevölkerung zum Geächteten.
Zusammen mit Schalom Cohen, einem Kameraden seiner Armeeeinheit, kaufte er das Magazin HaOlam HaSe („Diese Welt“) und schrieb weiter: Die Korruption und die Diskriminierung der Sfaradim, der aus arabischen Staaten eingewanderten Juden, gehörten zu seinen Themen, genauso wie die „feigen Jasager“ rund um den ersten Regierungschef David Ben-Gurion, den er auf einer Titelseite einen „Diktator“ schimpfte. Er schrieb für die Rechte des „palästinensischen Volkes“, das er als erster Israeli beim Namen nennt, für Meinungsfreiheit und für eine hohe Auflage. Das Magazin stand für investigativen Journalismus und für dick gedruckte rote Schlagzeilen. Keine andere israelische Zeitung veröffentlichte jemals zuvor noch danach derart provokative Nacktbilder wie HaOlam HaSe.
Avnery war skrupellos gegenüber Politikern und auch gegenüber seinen Mitarbeitern, die er regelmäßig nachts aus dem Bett holte, um sie zu Recherchen abzukommandieren, denen er einen Hungerlohn zahlte und mit denen er radikal brach, sobald sie seinem strengen Regiment nicht mehr folgen wollten.
Das Wochenblatt polarisierte durch seine Radikalität. Es kam zu einem Bombenanschlag und zu einem Angriff auf offener Straße, bei dem ihm die Hände gebrochen wurden. Der Überfall brachte ihn mit Rachel, seiner späteren Frau, zusammen, die zu dem Hilflosen in die Wohnung zog, um sich um ihn zu kümmern – und dort blieb. Das Paar entschied sich gegen Nachwuchs. Hätten sie Kinder, hätte er nicht tun können, was er tun wollte, begründete er das, und seine Frau schien es nicht zu bereuen. Sie wollte so oft wie möglich an seiner Seite sein. Dafür gab es jede Menge Katzen in der Stadtwohnung der Avnerys.
Mitte der 1970er entkam Avnery knapp einem Messerattentat. „Ich bin anschließend über viele Jahre nicht ohne Pistole aus dem Haus gegangen“, erzählte er später. Am meisten verhasst war der Chef von HaOlam HaSe den Politikern, die jede Woche mit Verhöhnung oder Entlarvung rechnen mussten. Mit dem „Gesetz gegen die üble Nachrede“ sollte das Magazin vom Markt vertrieben werden.
Avnery nahm die Kampfansage an und kandidierte Mitte der 1960er Jahre selbst für die Knesset, das Parlament, wo er insgesamt zehn Jahre lang arbeitete. Er soll in dieser Zeit keine einzige Sitzung verpasst, über eintausend Reden gehalten und eintausend Gesetzentwürfe eingebracht haben, darunter Gesetze zur Einführung standesamtlicher Trauungen, zur Legalisierung von Homosexualität und von Abtreibungen. Keine einzige seiner Gesetzesinitiativen erreichte eine Mehrheit in der Knesset, aus der er 1981 auszog, um seinen Platz für einen arabischen Parteifreund zu räumen. Zu dieser Zeit unterhielt er bereits seit Jahren Kontakte zur PLO-Führung, was damals gesetzlich verboten war.
„Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft“, kommentierte Avnery Jahrzehnte nach seinem ersten Treffen mit Arafat. „Ich habe immer geglaubt, dass man mit Arafat Frieden machen kann und sollte.“ 1993, als Israel und die PLO die Osloer Prinzipienerklärung unterzeichneten, die ein erster Schritt zur Zweistaatenlösung sein sollte, gründete Avnery Gusch Schalom, den Friedensblock, um auf außerparlamentarischer Bühne weiter Druck auf die Führung auszuüben, sich für den Frieden zu entscheiden. Er organisierte Demonstrationen und schrieb wöchentlich im Newsletter der Bewegung über aktuelle Themen.
Noch Anfang August veröffentlichte er einen ausführlichen Essay zum jüngst in der Knesset verabschiedeten Nationalstaatsgesetz. „Wir gehören zu diesem Land, und wir werden hier noch viele künftige Generationen leben. Deshalb müssen wir zu friedlichen Nachbarn in der Region werden.“ Das neue Nationalstaatsgesetz sei „halbfaschistischer Natur“ und zeige, wie dringlich die Debatte darüber sei, „wer wir sind, was wir wollen und wohin wir gehören. Andernfalls ist unser Staat dazu verdammt, dauerhaft ein Staat der Zeitweiligkeit zu sein.“ Die Hoffnung auf einen Frieden gab er nie auf. „Man weiß nie, welche Kräfte am Werk sind – auch wenn es heute so aussieht, als steuerten wir geradewegs auf einen Eisberg zu.“
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