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Phantomim Parkett

Was die Theater über ihr Publikum wissen (und was nicht) – und wie sie das zu ändern suchen

Verlässt sich aufs „Gefühl für die Bewohner“: Erich Sidler, Intendant des Deutschen Theaters in Göttingen vor seinem Haus Foto: Matthias Brunnert/dpa

Von Jens Fischer

Mythos Publikum? Jedenfalls erscheinen sie Theatermachern immer wieder rätselhaft, diese Zuschauern, die unbekannten Wesen. Denn es gibt zunehmend weniger Berührungspunkte zwischen den Lebenswirklichkeiten und Kunst­interessen der treuen, mit psychologischem Realismus und linearem Geschichtenerzählen sozialisierten Abonnenten-Generation und den jungen, mit allen performativen Wassern gewaschenen, ästhetisch experimentierfreudigen Bühnenkünstlern. Beider Theaterliebe, so scheint es in den Regietheaterdebatten, gilt nicht demselben Objekt. Sollte man sich voneinander trennen? Oder mehr füreinander aufschließen? Wir haben beispielhaft in Hannover und vor allem in Göttingen recherchiert.

Was wissen Theater von ihren Besuchern? Wollen sie die kennenlernen? „Selbstverständlich, das ist das Wesentliche. Wir machen doch Theater für die Menschen der Stadt, in der wir arbeiten, und verhandeln ihre Themen“, sagt Erich Sidler, Intendant des Deutschen Theaters Göttingen (DT). Sammelt er die Themen beim Kneipenbummeln? „Nein, ich sehe ja, wie die Tageszeitung hier Themen gewichtet und aufmacht.“ Ein Indiz dafür, was virulent ist. Noch mehr reizt Sidler, was dort nicht vorkommt. „Nämlich verdrängt wird, also notwendigerweise auf die Bühne muss.“ So setzt er gegen das vorgebliche Interesse der Stadt einige Rechercheprojekte und Stückentwicklungen zu Göttingen in der NS-Zeit, etwa über die „Arisierung jüdischen Eigentums“.

Mehr als 100.000 Tickets verkauft das DT pro Saison. Wie viele Menschen diese kaufen, weiß das Theater nicht. Was sie motiviert, das Parkett mit der Couch zu tauschen, was ihre Bedürfnisse sind, ihre Freizeit – und Konsumgewohnheiten – dazu gibt es einige ältere Untersuchungen. Fast alle Bühnen haben es mal versucht, die Spezies ihrer Theatergänger mit einer Besucherumfrage oder gar repräsentativer Studie zu charakterisieren und so handhabbar zu machen. Zuletzt beispielsweise 2015 in Hannover und Braunschweig sowie 2016/17 in Osnabrück.

Die Ergebnisse sind stets ähnlich. Der durchschnittliche Theaterbesucher ist über 50 Jahre alt, weiblich, minimal pigmentiert, vermögend, seit Geburt deutsch, hat einen hohen Bildungsstatus, geht lieber ins Musik- denn ins Sprechtheater, wünscht sich weniger Modernes, dafür mehr gut bekleidete Klassiker, traditionelle Komödien und Musicals. Er erfreut sich an den Leistungen der Sänger, Musiker, Schauspieler und Tänzer, weniger an denen der Regisseure. Warum das so ist und wie es zu ändern wäre? Ohne dieses Wissen bleibt das allgemeine Publikum den Künstlern eine gesichtslose Masse Konservativer. Wird der Kontakt gesucht?

Sidler sagt, er sei ansprechbar bei allen Premieren und auch mal im Theaterbistro präsent. Spricht selbst das Publikum aber nicht offensiv an. Ist trotzdem bekannt, wie Inszenierungen wahrgenommen werden? Beispielsweise durch Leserbriefe in der Tageszeitung? „Da gibt es vielleicht einen pro Jahr“, heißt es in Göttingen. E-Mails an den Intendanten? Fehlanzeige! Auch per Facebook & Co. outen sich Zuschauer meist nicht offenherzig. Es scheint die Ansprache und das richtige Medium der Kommunikation zu fehlen. Nur mit dem Förderverein gebe es gelegentlich einen Austausch, so Sidler. Immerhin treffen Dramaturgen das Publikum bei Nachbesprechungen und Kassenmitarbeiterinnen berichten Intendanten von Verkaufsgesprächen – auch Kummerkästen sammeln Meinungen in einigen Städten.

In Göttingen ist das Ergebnis der Rückmeldungen überschaubar. „Es gibt nur drei Gruppen: Die einen finden die Aufführung gut, andere ärgern sich, etwas nicht verstanden zu haben, etwa den Tausch von Geschlechterrollen, und den Dritten gefällt irgendwas nicht, finden beispielsweise die Kostüme hässlich“, so Sidler. Mit diesem Wissen werden dann die Stückeinführungen neu justiert. Mehr Einfluss haben die Zuschauer nicht. Und es gibt gerade in den künstlerischen Abteilungen auch kaum Ansporn, die Theaterbesucher gläsern zu machen, mit ihren Daten dann Algorithmen zu füttern, die stets neue Produktionen im Kundensinne vorschlagen. Selbst Programmbeiräte aus Publikumsvertretern sind unüblich.

Wenn in Oldenburg in der kommenden Saison Stücke in Lesungen vorgestellt werden und Besucher abstimmen, welches davon inszeniert werden soll, ist das die große Ausnahme. „Wir wollen keine Mitbestimmung durch das Publikum bei der Spielplangestaltung und dem Engagement von Regisseuren. Ich bin der künstlerische Leiter“, sagt Sidler.

Stadttheater funktioniert eben anders als freie Wirtschaft. Wer dort etwas verkaufen will, kann Bedürfnisse in Zielgruppen erkunden oder erwecken und mit Dienstleistungsangeboten zu befriedigen versuchen. Theatermacher beziehen sich vornehmlich nicht auf eine konkret eruierte Nachfrage. Je größer die Bühne, desto eher ist zu hören, dank der Subventionen sei man völlig autark und unbeeinflussbar von Besucherinteressen und kreiere Produktionen ausschließlich nach eigenen künstlerischen Maßstäben und Überzeugungen. Kunstfreiheit.

Dann werden Marketingabteilung und Öffentlichkeitsarbeiter losgejagt, um Kunden zu finden, anzusprechen und vom Ticketkauf zu überzeugen. Jetzt, da die kulturhungrige Nachkriegsgeneration ausstirbt, sind die Babyboomer dran. Theaterpädagogen sollen die junge Generation nachhaltig anfixen. Diese Abteilungen nutzen auch die Ergebnisse quantitativer Sozial- und qualitativer Marktforschung sowie Kundendaten. Damit können Kartenverkäufe angekurbelt, aber auch Gelegenheits- zu Stammbesuchern und Multiplikatoren werden. Wobei: Mit der neuen europäischen Datenschutzverordnung darf das aus den Ticketing-Statistiken gewonnene Wissen über die Interessen der Kunden nur noch gegen schriftliche Zustimmung verwendet werden, sodass Direktmarketingaktionen von den meisten Theatern erst mal eingestellt wurden.

Was Theater auf alle Fälle vom Publikum wissen: Wo geht es hin, wo nicht. Im ersten Fall werden mehr Aufführungen angesetzt, im zweiten Fall chronisch Einführung angesetzt. Aber egal welche Marketingmaßnahme durchgeführt wird und was Rezensenten schreiben, einzig Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniere nachhaltig, heißt es in Göttingen. Warum eine in der Presse niedergemachte Produktion erfolgreich ist oder eine von Künstlerseite sehr geschätzte Arbeit total scheitert, ist nicht bekannt. Aber der Wille deutlich, sich nicht danach zu richten. Brechts „Puntila“ wurde in der letzten Saison etwa in Göttingen nicht angenommen. „Obwohl ich weiß, dass kaum einer kommt, lass ich die Inszenierung im Programm, auch Vorstellungen im reinen freien Verkauf, sie soll sichtbar bleiben, weil wir sie gut und wichtig finden“, so Sidler.

Es ist ja immer ein ambivalentes Spiel. In Hannover hat die Publikumsbefragung ergeben, dass Schauspielbesucher „weniger Schlamm, Wasser, Lebensmittel, Nacktheit und Rauchen“ auf der Bühne wünschen, „mehr ,Klassiker‘ denn Innovatives“. Andererseits ist es genau der Markenkern des Theaters, „innovativ, kreativ, experimentier- und risikofreudig“ zu sein. Weswegen die Studie in Hannover keine Folgen für den Spielplan hat. Jedem Stück eine Pause einzuschreiben, so ein weiterer Zuschauerwunsch, hat die Dramaturgie gleich abgelehnt. Nur dem Interesse an hochwertigen Gastspielen wird weiter entsprochen.

Wichtigste Folge der Erhebung: Weil die ausgewiesene Zahl jüngerer Besucher zu gering war, gibt es nun eine Flatrate für Studierende (taz berichtete), auch sind in Hannovers Erstsemestertüten nun Bleistift, Flyer oder Handyputzer mit dem Staatstheater-Logo vorzufinden. Außerdem wurde eine „Kommunikationsagentur mit Szenekenntnissen“ beauftragt, Facebook-Werbekampagnen durchzuführen.

Wer sind diese Zuschauer – und was erwarten sie? Fotos: Sebastian Gollnow/dpa, Jan-Philipp Strobel/dpa

Aber was bedeutet nun, Theater für eine Stadt zu machen? Es gebe so ein Gefühl für die Bewohner – und das habe schon Folgen fürs Programm, sagt Sidler. „Sehr bildungsbürgerlich“ sei es in Göttingen und wurde zuletzt etwa mit der Geschichte der jugendlichen Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai präzise bedient. Auch Literaturadaptionen funktionieren bestens. „Der Untertan“ sei besonders wichtig, „weil Untertänigkeit hier sehr präsent war“, sagt Sidler.

Aber von den 22 Produktionen pro Saison sind nur wenige als direkte Reaktionen auf die Art zu verstehen, wie die Theatermacher die Göttinger wahrnehmen. Fast alles hätten sie auch an jedem anderen Stadttheater machen können – nur die Stückaufträge an Rebekka Kricheldorf seien speziell für Göttingen erteilt. Weil es dort so viele Grüne gebe und deren Political Correctness gehörig nerve, so Sidler, habe er die Autorin gebeten, etwas dagegen zu schreiben: „Homo Empathicus“ gefolgt von „Fräulein Agnes“ als verstörungswillige Generalabrechnung mit diesem links-alternativ etablierten Besserverdiener-Milieu. Funktionierte auch.

Eines ist überall zu hören: Wirklich erfahren wollen Theater von konsequenten Nicht-Besuchern, warum sie den Parketts fernbleiben. Denn das sind vielen Studien zufolge über 90 Prozent der Bevölkerung. Riesige ungenutzte Potenziale. Und derzeit eine wirklich gesichtslose, weil wahnwitzig segmentierte Masse.

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