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Neugier auf den anderen Körper

Verträumt und gefühlvoll, dabei stets realistisch erzählt der französische Zeichner Bastien Vivès in seinem Comic „Eine Schwester“ aus jugendlicher Perspektive von erster Liebe

Von Ralph Trommer

Wie so oft beginnt der Sommerurlaub mit einer langen Autofahrt. Während die Erwachsenen von der Fehlgeburt einer Freundin sprechen, beschäftigt die beiden Kinder auf dem Rücksitz ein Spiel auf dem iPad. Doch Antoine, der Größere der beiden Jungs, schnappt das Wort „Fehlgeburt“ auf und möchte mehr darüber wissen.

Angekommen im Ferienhaus nahe der Küste, geht alles den üblichen Weg. Aber beim Spielen am Meer gibt es die ersten Konflikte mit anderen Kindern, die behaupten, dass die Poke­mon­figur des Kleinen ihnen gehört.

Wer Action oder handfeste Konflikte erwartet, ist hier in der falschen Graphic Novel. Dem Zeichner geht es darum, Stimmungen und Erfahrungen der Jugend, die jeder Erwachsene kennt, zu evozieren und im Kopf erneut zu durchleben, nicht identisch, doch in ähnlicher Weise.

Der 1984 geborene französische Comiczeichner Bastien Vivès, seit rund zehn Jahren ein Star der Szene und ein Meister im Wechseln der Genres, versteht es, die Erwartungen der Leser zunächst zu erfüllen und sie im nächsten Augenblick subtil zu unterwandern. Erst zeichnet er das Bild einer Ur­laubs­idyl­le, wie sie wohl viele Familien erleben. Dann setzt er kleine Zeichen, die den Zustand der gepflegten Langeweile stören – erst die Nachricht von der Fehlgeburt, dann der latent bedrohliche Konflikt mit anderen Kindern.

Das Besondere: Vivès erzählt konsequent aus Sicht des dreizehnjährigen Antoine, ohne dessen Perspektive allzu aufdringlich auch visuell einzunehmen. Vivès’ „Kamera“ zeichnet immer das Umfeld mit, lässt aber vieles im unscharfen Bereich: Hintergründe bleiben weiß, oder Gesichter erscheinen leer. Der Verzicht auf diese Details reduziert den einzelnen Moment auf den wesentlichen Ausdruck, erschafft eine Stimmung wie in diffuser Erinnerung. Etwa die der sommerlichen Unbeschwertheit.

Vor allem die Erwachsenen spielen keine besonders große Rolle, sind mehr Staffage und verschwinden zunehmend im Hintergrund. Die Langeweile dieses schon rituellen Sommeraufenthalts wird jäh unterbrochen durch das Auftauchen des Mädchens Hélène, der Tochter einer Bekannten der Familie (diese hatte kurz zuvor die eingangs erwähnte Fehlgeburt), die für ein paar Wochen auf­genommen und im Zimmer der beiden Jungs einquartiert wird.

Antoine ist zunächst irritiert und zunehmend fasziniert von der so unerwartet auftauchenden Sechzehnjährigen, die ganz ungezwungen mit den Brüdern umgeht und Antoine schon einen Entwicklungsschritt voraus ist. Es entwickelt sich eine Beziehung, die auf einem schmalen Grat zwischen geschwisterlicher Freundschaft (siehe Titel) und erster Liebe wandelt und dadurch an erotischer Spannung gewinnt.

Schon in seinen früheren Graphic Novels „Der Geschmack von Chlor“ (2009) und „Polina“ (2011) verstand der in Paris lebende Zeichner und Autor es, Stimmungen und Gefühle mit wenigen Pinselstrichen abzubilden, in lebensnaher und zugleich dicht erzählter Weise. Diese impressionistische Wirkung gelingt dem Zeichner mithilfe seines Grafiktabletts und reduzierter Farbpalette (hier ist es nur ein matter Braunton, der den Schwarz-Weiß-Bildern unterlegt wird). Es sieht aus, wie getuscht.

Als Überraschung weht am Ende ein Hauch Tragödie in die Geschichte

Manchmal läuft Vivès Gefahr, eine Männer- beziehungsweise Jungsfantasie zu erschaffen, so ideal wirkt Hélènes Gesicht, so fraulich ihre Figur. Darin ähnelt sie ein wenig den vollbusigen Pin-up-Girls, die der Zeichner in einigen erotischen Werken (und auch dem Frauen-Heist-Comic „Die große Odaliske“ von 2012) mit Vorliebe zeichnet.

Trotzdem wirken die Szenen der Intimität sehr natürlich und zeugen von der Einfühlsamkeit des Künstlers, beide Geschlechterseiten differenziert auszuleuchten. Denn auch Hélène ist nicht ganz so selbstsicher und erfahren, wie sie zu Beginn vorgibt. Beider Un­sicherheit und Neugier führt zur ersten körperlichen Nähe. Diese Sequenzen zeichnet Vivès sehr geschmackvoll, pendelnd zwischen zarter An­deutung und expliziter Darstellung. Er verzichtet aber auch nicht gänzlich auf einen gewissen Voyeurismus, der der Abbildung der Liebe zweier Teenager innewohnt.

Als Überraschung weht am Ende, wie schon zu Beginn des Buchs, ein Hauch Tragödie in die verträumte Geschichte einer Sommerliebe: durch ein unerwartetes Ereignis, bei dem Hélène intuitiv ihren „kleinen Bruder“ Antoine beschützt.

Hier beweist Bastien Vivès, dass er auch ein großer Erzähler ist: Denn er versteht es, seine Liebesgeschichte, die manchmal droht, in die Banalität abzurutschen, durch geschickt gesetzte Nebenhandlungen rea­lis­tisch zu grundieren und ihr zugleich – ganz unschwülstig – einen Touch von „Schicksalshaftigkeit“ zu geben.

Bastien Vivès: „Eine Schwester“. Aus dem Französischen von Heike Drescher. Reprodukt Verlag, 216 Seiten, 24 Euro

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