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Ein Produkt der Zerfallsprozesse

Die EU-Politikerin Ulrike Lunacek war Sonder-berichterstatterin für das Kosovo. In ihrem Buch rekapituliert sie die letzten zehn Jahre

Von Ralf Leonhard

Am 21. März dieses Jahres gelang es dem kosovarischen Parlament, das im August 2015 unterzeichnete Grenzabkommen mit Montenegro zu ratifizieren. Drei Ratifizierungsversuche waren seit Jahresbeginn gescheitert, weil Abgeordnete der oppositionellen nationalistischen Bewegung Vetëvendosje durch das Versprühen von Tränengas die Räumung des Parlaments erzwungen hatten. Nationalismus wird im Kosovo, das 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärte, großgeschrieben – auch wenn es bei dem Grenzabkommen nur um 8.200 Hektar Bergwiesen geht, die im Übrigen weiter von Kosovaren bewirtschaftet werden dürfen.

Mit der Bereinigung der umstrittenen Grenze im Westen stößt das Kosovo die Tür zur Visafreiheit für die EU auf. Ulrike Lunacek hatte diese Abstimmung jahrelang eingefordert. Die österreichische ehemalige EU-Abgeordnete der Grünen war fast zehn Jahre lang Sonderberichterstatterin des Europa-Parlaments für den jüngsten Staat Europas. Immer wieder musste sie Gesprächspartnern in Prishtina erklären, warum das Kosovo als einziger Staat des Westbalkans noch nicht in den Genuss der Visabefreiung gekommen war.

Die Flüchtlingsbewegungen der vergangenen Jahre haben die Sache nicht einfacher gemacht. Denn die für Visafragen zuständigen Innenminister der EU stehen unter Druck, weil Populisten in den eigenen Ländern gezielt die Angst vor Fremden schüren.

Lunacek appelliert indes an die Vernunft. Wolle die EU „wirklich dazu beitragen, dass sich die vielen jungen Menschen im Land, die bisher die pro-europäischsten in ganz Südosteuropa waren, mehr in Richtung Türkei orientieren“? Sie ist überzeugt, dass die Isolation auch die Bereitschaft zur Radikalisierung fördere.

Lunaceks knapp vor dem Parlamentsentscheid erschienenes Buch „Frieden bauen heißt weit bauen“ ist ein Plädoyer für die eigenständige Entwicklung eines Landes, mit dem die meisten Menschen in Europa noch nicht viel anfangen können. Lunacek sieht den Auftrag, „ein weit genug ausladendes Dach für alle Bürgerinnen und Bürger zu schaffen, damit der Staat, in diesem Fall Kosovo/Kosova, als gemeinsames Haus für alle akzeptiert wird“.

Kein Präzedenzfall

Das betrifft auch die Roma, aber vor allem die serbische Minderheit, die die Trennung vom Mutterland größtenteils noch nicht akzeptieren will. Obwohl Serbien den Konflikt weiterhin schürt, gibt es im Privaten längst Versöhnung, wie das Beispiel der Leiterin des Kosovo Women’s Network, Igballe Rogova, und ihrer lesbischen Partnerin Lepa Mljadenović zeigt. Symptomatisch allerdings, dass beide bei einer Veranstaltung über inter­ethnische Begegnungen Ziel einer Attacke islamistischer Hooligans wurden.

Zehn Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung haben fünf EU-Mitglieder das Kosovo noch immer nicht anerkannt. Darunter Spanien, das einen Präzedenzfall für Katalonien und das Baskenland fürchtet. Lunacek findet diese Furcht unbegründet und will den Vergleich nicht gelten lassen: „Keine der demokratisch gewählten spanischen Regierungen seit dem Tod Francos 1975 hat Völkermord und Vertreibung gegen KatalanInnen oder BaskInnen betrieben“, argumentiert sie. Völkerrechtler stimmen ihr zu.

Bei aller Sympathie für das Balkanland ist Lunacek nicht blind gegenüber Korruption, Drogen- und Menschenschmuggel. Man könne eine klare Entwicklungslinie zeichnen, seit Gesamtjugoslawien sich aufgelöst hat und damit gesellschaftliche und staatliche Zerfallsprozesse begonnen haben. Wer sich mit dem Kosovo befassen will, sieht in diesem Band die wichtigsten Aspekte der jüngsten politischen Entwicklung aufbereitet – und ohne Schlagseite analysiert.

Ulrike Lunacek:„Frieden bauen heißt weit bauen“. Wieser Verlag, Klagenfurt/Celovec 2018, 308 Seiten, 19,80 Euro

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