piwik no script img

Nachhaltige Verletzungen

Grundlagenforschung und Hilfsmittel: Ein neues Handbuch liefert einen wichtigen Beitrag für den Umgang mit und die Aufklärung von sexualisierter Gewalt an Kindern

Von Micha Brumlik

Das Thema ist in aller Munde: sexueller Kindesmissbrauch. So hat jüngst der Schweizer Schriftsteller Christian Kracht in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung in erschütternder Weise auf seine eigenen Erfahrungen als Opfer verwiesen und der Autor Bodo Kirchhoff in seinem soeben erschienen Roman „Dämmer und Aufruhr“ die eigene Kindheits- und Jugendgeschichte, die von derlei Erfahrungen überschattet wurde, entfaltet – nicht, ohne in begleitenden Interviews darauf hinzuweisen, dies schon vor Jahren öffentlich geäußert zu haben, ohne dass das damals irgendjemanden interessiert hätte.

Der Zufall, nein, die Logik öffentlicher Erfahrung hat es mit sich gebracht, dass just jetzt ein Buch zu dieser Thematik erschienen ist, das Standardwerk bleiben wird. Alexandra Retkowski, sie lehrt in Kassel, Angelika Treibel, sie forscht an der Universität Heidelberg zu Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, und Elisabeth Tui­der, Professorin für Soziologie der Diversität in Kassel, haben ein Handbuch herausgegeben, das buchstäblich sämtliche Aspekte dieser Problematik gründlich und informativ abhandelt.

Im „Handbuch – Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte“ finden sich auf mehr als eintausend eng bedruckten Seiten etwa einhundert Beiträge von etwa ebenso vielen AutorInnen – sie reichen vom ersten Artikel „Politische Debatten rund um die Aufarbeitung und Prävention sexualisierter Gewalt seit 2010“ über einen Artikel zu „Sexualisierter Gewalt in der Jugend- und Reformbewegung“ zum dritten großen Teil, in dem es in siebzehn Beiträgen um „Soziale Verhältnisse sexualisierter Gewalt“ geht. Einzelbeiträge zu „Prävention, Intervention und Multiprofessionalität“ und Überlegungen zu „Folgen, Bewältigung, Aufarbeitung“ geben Handreichungen für eine erfolgreiche pädagogische und therapeutische Praxis. Es versteht sich von selbst, dass eine Rezension die Fülle dieser Überlegungen nicht würdigen kann – worum es hier nur gehen kann, ist die Erwähnung der systematischen Grundlagen, aus denen sich dann die praktischen, rechtlichen und politischen Konsequenzen mit überraschender Schlüssigkeit ergeben.

Sexuelle Übergriffe und ihre nachhaltige Schädlichkeit sind – so Martin Grosse in einem Beitrag zur Bedeutung von Körper und Leib für die menschliche Existenz – ohne die von der philosophischen Anthropologie herausgestellte Doppeltheit von „Körper“, den Menschen haben, und „Leib“, der sie sind, nicht zu verstehen. Das sieht die Psychoanalyse, so Marianne Leuzinger-Bohleber und Mareike Ernst, ähnlich, weshalb sie auf eine fatale „Umkehr vom ‚passiv Erlittenen‘ zum ‚aktiv Herbeigeführten‘“ aufmerksam machen. Indes: Ist es wirklich so, dass Täter ihren Opfern das zufügen, was sie selbst erlitten haben? Eben diese häufig geäußerte Vermutung wird von Dirk Bange auf der Basis genauestens rezipierter empirischer Forschung widerlegt: „Statt sich darauf zu fokussieren, warum einige männliche Betroffene zu Tätern werden, ist es an der Zeit zu fragen, warum die meisten Opfer – insbesondere Frauen – diesen Weg nicht einschlagen.“

Das vor allem ist ein besonderes Verdienst dieses Handbuchs: Allen schlichten, monokausalen Ursachenzuschreibungen entgegen auf das komplexe, mehrdimensionale, strukturelle Bedingungsgefüge hinzuweisen, das auch noch in unseren Gesellschaften dazu führt, dass etwa 20 Prozent aller Kinder derlei traumatisierende Erfahrungen machen.

Fügen Täter wirklich ihren Opfern das zu, was sie selbst erlitten haben? Diese häufige Vermutung wird widerlegt

Maren Kolshorn, sie wirkt in einem Frauennotruf-Zentrum in Göttingen, widerlegt in ihrem Beitrag unter Bezug auf den US-amerikanischen Forscher David Finkelhor jedes monokausale Ursachenverständnis durch ein Vierstufenmodell: Erstens muss als notwendige Bedingung ein Täter dazu motiviert sein, ein Kind zu missbrauchen, aber zweitens konventionelle „innere Hemmungen“ gegen derlei Taten überwinden, um schließlich auch drittens „äußere Hemmfaktoren“ und endlich viertens den Widerstand vonseiten des Opfers zu überwinden. In dem Beitrag von Jürgen Oelkers zur sexualisierten Gewalt in der Jugend- und Reformbewegung lässt sich dies am Beispiel der Odenwaldschule und der fatalen Gestalt des Gerold Becker exakt nachvollziehen. Freilich: Auch Finkelhors Vierstufenmodell war noch blind gegen strukturelle soziale Bedingungen wie koloniale Gewalt, machtgestützte männliche Heteronormativität und der Einfluss einer bürgerlichen, vermeintlich wohlanständigen Öffentlichkeit, etwa über lange Jahre der Wochenzeitung Die Zeit, einer Öffentlichkeit, die sich in charismatischen Gestalten wie Hellmut Becker und vor allem Hartmut von Hentig gegen eine Aufdeckung wehrte, zu vertuschen suchte und derzeit bemüht ist, die kindlichen und jugendlichen Opfer zu „Verführern“ umzudeuten.

Schließlich kommen als strukturelle Bedingungen auch Armut, Drogen, der Cyberspace, Übergriffe beim Dating, ja sogar in der Lebenswelt von Studierenden hinzu. Zu all diesen Aspekten liefert das Handbuch auf Basis der wirklich neuesten internationalen Forschung basierende Einzelbeiträge. Am Ende wird klar, dass pädagogische Professionalität, die ihren Namen verdient, sich mit den vielfältigen Ursachen ebenso vertraut machen muss wie mit den nicht wenigen pädagogischen Präventions- und Bewältigungsformen.

Daher gehört das „Handbuch – Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte“ trotz seiner tausend Seiten und seines hohen Preises von knapp 80 Euro in die Handbibliothek aller pädagogischen Einrichtungen, mehr noch: in die Bibliothek aller, die in irgendeiner Weise, sei es als KitamitarbeiterInnen, GrundschulpädagogInnen, LehrerInnen aller Schulstufen oder SozialpädagogInnen mit Kindern und Heranwachsenden zu tun haben. Sie seien dessen versichert, dass der Erwerb dieses Buches eine der sinnvollsten Investitionen in ihre Ausbildung ist, die sich denken lässt.

A. Retkowski, A. Treibel, E. Tuider (Hrsg.): „Handbuch – Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis“. Beltz Juventa, Weinheim 2018, 1.025 Seiten, 78 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen