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Europa wird sein

Erst war die EU fest, dann flüssig, nun droht sie zu verdampfen. Das wollen acht Leute an einem Küchentisch ändern. Zu Besuch bei einem Hausparlament der Bürgerbewegung Pulse of Europe

Das Berliner Küchenparlament von Pulse of Europe tagt Foto: Christian Mang

Von Hannes Koch

Ihr Onkel musste sich kürzlich bei der Armee melden. Das polnische Militär überprüft seine Soldaten, die früher mal Wehrdienst geleistet haben. Was dort passiert im Land ihrer Verwandten, kann Gabriela nicht richtig einordnen. Furcht vor den Russen, Machtdemonstration der Regierung? Jedenfalls bereitet es ihr Sorgen. Sie hat „Angst vor einem europäischen Bürgerkrieg“.

Gabriela ist eine von acht Leuten im Alter von 19 bis 41, die an diesem heißen Sonntagabend Ende Juli um den Wohnzimmertisch im ersten Stock einer Berliner Altbauwohnung sitzen. Gelbe Holzstühle, alte Sessel, vollgestopfte Bücherregale. Die Fenster stehen offen – man könnte jetzt auch am See liegen. Immerhin gibt es kaltes Bier, Erdnüsse, gefüllte Weinblätter, Salzbrezeln. „Sollte eine europäische Armee die nationalen Heere ablösen?“, lautet die schwere Frage, die nicht zur Sommerstimmung passt.

Es braucht ein starkes Europa

Thair, schwarzer Bart, kariertes Hemd, vor drei Jahren aus Syrien nach Deutschland geflohen, fällt die Antwort am leichtesten. Die russische Luftwaffe bombt sein Land in Grund und Boden. „Europa braucht eine gemeinsame Armee“, sagt er entschlossen. Ein starkes Europa, das sich traut, im Ausland zu intervenieren, könnte aus seiner Sicht die Rettung bedeuten. „Kleine Länder würden dann mehr Schutz genießen“, findet auch Tanya, Mitte zwanzig, Juristin aus Amsterdam. Sie denkt dabei eher an Polen und die baltischen Länder, die sich ebenfalls vor Russland fürchten.

„Aber“, wendet Internetentwickler Hannes ein, „je größer die Truppe, desto mehr steigt die Gefahr des Machtmissbrauchs“. Gastgeberin und Künstlerin Sophie findet Rüstungspolitik ebenfalls nicht toll. „Kleine Armeen sind doch besser zu kontrollieren als große.“ Mit ihr zusammen hat Willem, breites Lachen, niederländischer Akzent, zu dieser Diskussionsrunde, einem sogenannten Hausparlament, eingeladen. Er engagiert sich bei der proeuropäischen Bürgerbewegung Pulse of Europe (PoE).

Seit Anfang 2017 brachte PoE teilweise zehntausende Bürger*innen in der Bundesrepublik und anderen EU-Staaten zu Sonntagsdemonstrationen auf die Straßen. Vor den Wahlen zum Europaparlament im nächsten Jahr hat die Organisation nun ihre Kampagne der Hausparlamente gestartet. Die Idee: Im Prinzip kann sich jede*r anmelden, erhält eine Gebrauchsanleitung und lädt bis zu sieben Freund*innen oder Bekannte nach Hause ein, um mit ihnen zwei Stunden über die politische Zukunft des Kontinents zu diskutieren. Rund 400 dieser Küchentisch- oder Wohnzimmerdebatten sind schon geplant.

Willem und seine Mit­strei­ter*innen hoffen, dass es Tausende werden, auch in anderen europäischen Ländern. Er betrachtet das Verfahren als Bürgerbeteiligung, politische Willensbildung und „ein Geschenk an die Politik“. Die Runde in Berlin denkt über das bisher Selbstverständliche nach – Reisen ohne Pass, den Wohnortwechsel ins Ausland, das Wohlstandsversprechen von Riga bis Porto. Die nationalistischen Bestrebungen in Großbritannien, Italien, Polen, Österreich, Ungarn stellen diesen Zustand nun aber infrage, er ist nicht mehr selbstverständlich. Europa ändert seinen Aggregatzustand. Was bisher fest erschien, verflüssigt sich. Bevor es verdampft, will Pulse of Europe eine neue, feste Verbindung entdecken.

Gibt es noch gemeinsame Werte in EU und Nato? Sind Russland und China neue Verbündete?

Gabriela, Künstlerin, schwarzes Kleid mit roten Blumenmustern, kurze Haare, sieht in einer gemeinsamen europäischen Armee, in der dereinst auch das polnische Militär aufginge, die Chance, dass Krieg zwischen den Staaten des Kontinents unwahrscheinlicher würde. Rechnen muss man damit heute zwar auch nicht – aber man weiß ja nie. Gabriela trifft mit ihrer Einschätzung die überwiegende Stimmung. Zur Frage „Europäische Armee statt nationaler Heere?“ kreuzen drei Teilnehmer*innen auf einer Skala zwischen Eins (auf gar keinen Fall) und Zehn (Ja, unbedingt) die Antwortoption Fünf an. Das bedeutet ein leichtes „Nein“. Fünf Leute jedoch sind in unterschiedlicher Stärke für gesamteuropäische Truppen. Willem als Moderator registriert die Abstimmungsergebnisse. PoE sammelt die Resultate aller Hausparlamente und schickt sie zur Stellungnahme an Staatsminister Michael Roth im Auswärtigen Amt.

Die acht Leute am Tisch bringen zwar Lebenserfahrungen aus vier Staaten mit – Deutschland, Niederlande, Polen und Syrien. Doch sozial und weltanschaulich sind sie ziemlich homogen. Gut bis sehr gut ausgebildet, stellt Grenzenlosigkeit für sie keine Bedrohung dar. Sie können überall erfolgreich sein. Sie haben akzeptiert, dass jede*r von ihnen mehrere Identitäten in sich vereint. Willem, promovierter Historiker, der auch Arabisch versteht, sagt über sich: „Zuerst empfinde ich mich als Niederländer, dann als Europäer, drittens als Deutscher.“

Diese persönliche Klarheit macht es nicht unbedingt leichter, die gigantischen Fragen zu beantworten, die Pulse of Europe auf den Tisch gepackt hat. Wie halten wir es mit Trump, der Europa auch mal als „Gegner“ bezeichnet? Ist der Westen am Ende? Gibt es noch gemeinsame Werte in EU und Nato? Sind vielleicht Russland und China gute neue Verbündete?

Die Versammelten sind höfliche Menschen. Laute Worte vermeiden sie. Sind sie ungehalten, merkt man es, weil sie ihr Argument mehrmals wiederholen. Journalist Patrick ist unzufrieden mit den Fragestellungen. Er findet sie zu politikpraktisch. Bevor man über eine gemeinsame Armee, ein handlungsfähiges EU-Außenministerium und eine andere Bündnispolitik rede, müsse man sich doch überlegen, wie die auseinanderdriftenden Staaten – und innerhalb dieser die Gesellschaften – wieder zueinanderfänden. Inner- und zwischenstaatliche Demokratie sei das eigentliche Thema, sagt auch Gabriela. Ist vielleicht ein anderes Entscheidungssystem nötig unter den 28 EU-Mitgliedern, das kleinen und großen Staaten gleichermaßen entgegenkommt? So etwas wie im deutschen Bundesrat, wirft Patrick ein, wo die kleinen Länder drei Stimmen haben, die großen aber höchsten sechs – Erstere nicht ignoriert, die Wünsche Letzterer aber auch nicht ewig blockiert werden können.

Schließlich sind die Ergebnisse der Debatte, gemessen am PoE-Leitfaden, dennoch ziemlich klar. Überwiegend findet die Runde, dass gemeinsame europäische Politik hervor-, einzelstaatliche hingegen zurücktreten solle. Europa gehöre werte- und menschenrechtsmäßig zum Westen, nicht zum Osten. Gegenüber Trump müsse man zwar auf mehr Eigenständigkeit setzen, aber auch den Ball flach halten, denn in spätestens sechs Jahren sei dieser US-Präsident Geschichte.

Es ist ein Experiment

Eine Demonstration von Pulse of Europe am Berliner Gendarmenmarkt Foto: Sebastian Wells

Mal sehen, was nun Michael Roth, der Staatsminister für Europa, damit anfängt. Der SPD-Politiker ist offizieller Ansprechpartner für diese erste Runde der Hausparlamente. Am 15. Oktober soll „er in einer zentralen Veranstaltung“ in Berlin „Stellung nehmen“, verspricht PoE. Er werde dann auch „konkrete politische Initiativen im Lichte der Ergebnisse der Hausparlamente“ erläutern. Das kann gut werden oder belanglos – es ist ein Experiment. Roth sagt: „Über den inhaltlichen Input hinaus verstehe ich die Hausparlamente auch als einen Auftrag an die Politik, beim Thema Europa nicht nachzulassen und das Feld nicht den Meckerern und Neinsagern zu überlassen: Die große Mehrheit Bürgerinnen und Bürger möchte, dass wir Europa verteidigen gegen Populismus und Nationalismus, sie möchte, dass Europa vorangebracht wird.“

Und wie soll die Sache über eine Selbstverständigung der Europa-Befürworter hinausgehen, politisches Momentum entfalten, in andere Schichten überspringen – so wie die Kampagne von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron? Bei Pulse of Europe stellt man sich vor, dass der Fluss der Debatten breiter wird, die Teilnehmer*innen der ersten Hausparlamente selbst weitere abhalten.

Am Berliner Wohnzimmertisch überlegt Sonja, eine Künstlerin mit Sonnenbrille im Haar, ihre Cousinen zu solch einer Veranstaltung einzuladen. Gabriela dagegen sagt: „Wenn ich das mit meiner Familie in Polen mache, habe ich keine mehr“.

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