: Pflegedienst fällt aus
In Niedersachsen schließen viele ambulante Pflegedienste keine Pflegeverträge mehr ab, einige haben sogar schon welche gekündigt. Die Träger finden häufig keine Mitarbeiter
Von Reimar Paul
Immer mal wieder war zuletzt vom Pflegenotstand die Rede. Fast inflationär, so schien es, machte das Wort die Runde. Doch zumindest in Niedersachsen ist der Begriff gerechtfertigt: Viele ambulante Pflegedienste in dem Bundesland nehmen derzeit keine neuen Patienten mehr an und kündigen sogar bestehende Versorgungsverträge. Grund ist der gravierende Fachkräftemangel in der Altenpflege.
Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, in der große Pflegeanbieter wie Diakonie, Caritas und der Paritätische zusammengeschlossen sind, hatte ihre 400 ambulanten Dienste zu einer Rückmeldung über die Monate Februar, März und April 2018 aufgefordert. Antworten kamen von rund einem Viertel der Dienste. Danach wurden im betreffenden Zeitraum über 1.700 Anfragen von Pflegebedürftigen abgelehnt, weil die Dienste den Wunsch nach einer ambulanten Pflege nicht erfüllen konnten.
In 63 Fällen mussten sogar bestehende Pflegeverträge gekündigt werden, sagte der Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Ralf Selbach: „Das Ergebnis war erschütternd und macht deutlich, welch gravierende Versorgungsprobleme wir in der niedersächsischen ambulanten Pflege haben.“
Nicht nur für die Pflegebedürftigen, sondern auch für die pflegenden Angehörigen und die Mitarbeitenden in den Pflegediensten sei die Situation extrem belastend, erklärte Selbach. Nach der jüngsten Landesstatistik werden in Niedersachsen etwa 80.000 Menschen von einem ambulanten Pflegedienst der Freien Wohlfahrtspflege oder einem privaten Dienst versorgt.
Niedersachsens Sozialministerin Carola Reimann (SPD) sieht die Entwicklung ebenfalls „mit großer Sorge“. Die ambulante Pflege stehe häufig nicht so im Fokus. Dabei sei sie angesichts des Wunsches vieler alter Menschen, im eigenen Zuhause zu bleiben, eminent wichtig. Gut 70 Prozent aller Pflegebedürftigen würden zu Hause gepflegt.
Die Grünen-Landtagsabgeordnete Meta Janssen-Kucz sprach am Montag von einem „wirklich erschreckenden Ergebnis“ der Umfrage. Landesweit müsse sogar von deutlich mehr Fällen ausgegangen werden, die Zahlen bezögen sich nur auf einen kleinen Teil aller ambulanten Pflegedienste in Niedersachsen.
Auch diakonische Einrichtungen mussten stellenweise Absagen erteilen und vereinzelt auch Kündigungen bestehender Verträge aussprechen, da die Arbeit nicht mehr geleistet werden konnte. Der Vorstandssprecher der Diakonie in Niedersachsen Hans-Joachim Lenke erklärte, die derzeitige Situation sei „ein Problem mit Ansage“. Für die pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörige sei es eine Katastrophe, wenn sie in ihrer Region keine Pflege fänden. Gleichzeitig könne niemand erwarten, „dass man den Pflegemitarbeitenden immer noch mehr Patienten, noch größere Touren und damit längere Arbeitszeiten zumutet“. Es sei keinem geholfen, wenn die Pflegemitarbeitenden aufgrund von noch höherer Arbeitsverdichtung krank würden und ausfielen.
Lenke forderte „jetzt unverzüglich ein Aktionsbündnis Pflege“. Darin müssten Politik, Kostenträger und Leistungserbringer zusammenarbeiten und die dringenden Fragen klären. Für die Diakonie gehöre dazu, dass eine wissenschaftliche Untersuchung möglichst schnell erhebe, wie viel Pflege in Niedersachsen wirklich benötigt werde.
„Des Weiteren brauchen wir eine Kampagne, die den Pflegeberuf gesellschaftlich aufwertet und jungen Menschen Mut macht, sich für eine Pflegeausbildung zu entscheiden“, fügte Lenke hinzu. Schließlich gehöre auch dazu, „dass wir endlich für die Pflege einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag bekommen, um den Mitarbeitenden einheitlich und verlässlich gute Löhne zu zahlen.“
Auch die Grünen verlangen, dass sich alle Akteure aus der Pflege schnellstmöglich zusammensetzen. Wenn Differenzen zwischen Kostenträgern und Leistungserbringern dazu führten, dass alte und kranke Menschen in Niedersachsen nicht ausreichend oder im schlimmsten Fall gar nicht versorgt würden, müsse die Landesregierung eine Klärung herbeiführen, so Meta Janssen-Kucz: „Die Versorgungssicherheit der Menschen in Niedersachsen muss jetzt oberste Priorität haben.“
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