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„Nicht nur das Blaue vom Himmel spielen“

Der Österreicher Dieter Glaschwischnig hat die norddeutsche Jazz-Geschichte geprägt wie kaum ein anderer. Der Dirigent über „Onkel Pö“, den Reiz einer Bigband und Krch-Krch-Krch – den neuen Sound des Jazz

Interview René Martens

taz: Herr Glawischnig, welche Philosophie steckt hinter der NDR-Bigband?

Dieter Glawischnig: Die Formel „Bemühung um zeitgenössische künstlerische Ausdrucksformen auf der Basis der Tradition der großen Vorbilder“ trifft es ganz gut, glaube ich. Wichtig war mir, dass die Musiker nicht nur exzellente Notenleser sind, die das Blaue vom Himmel spielen können, sondern auch eine persönliche improvisatorische Aussagekraft haben.

Wie sah die Jazz-Szene in Hamburg aus, als sie hierher kamen?

Ich hatte bereits in den 1970er-Jahren Engagements beim NDR. Es gab hier in Hamburg mehr Vielfalt als in den anderen Jazz-Zentren der Bundesrepublik. Das „Onkel Pö“ war damals der Hauptclub. Ich hatte eine Wohnung vis à vis, in der Eppendorfer Landstraße, die hatte ich von einem Kollegen übernommen. Das war gut, weil der Weg zum Onkel Pö kurz war, hatte aber auch einen Nachteil: Wenn dort um zwei Uhr Schluss war, dann haben die Musiker, die dort gespielt haben, danach bei mir geläutet, weil sie noch lange nicht ins Bett wollten. Das war lustig, aber später dann auch anstrengend.

1985 haben Sie an der Hochschule für Musik und Theater eine Jazz-Abteilung aufgebaut. Was war daran so besonders?

Das war fünf Jahre, nachdem in Köln die erste akademische Jazz-Ausbildung auf deutschem Boden entstanden war. Ich hatte vorher schon in Graz unterrichtet. Das Reizvolle an der Konstellation in Hamburg war aber die Art und Weise, wie sich hier Pä­dagogik und Praxis verbinden ließen. Der Vibraphonist Wolfgang Schlüter, der Saxophonist Herb Geller und der Bassist Lukas Lindholm waren als Bigband-Musiker beim NDR angestellt und hatten Lehraufträge an der Hochschule. Außerdem haben Bigband-Gastmusiker wie der Free-Jazz-Schlagzeuger Tony Oxley, der ebenfalls 80 Jahre alt wird in diesem Jahr, an der Hochschule unterrichtet, etwas Besseres konnte einem jungen Trommler gar nicht passieren.

Wie sind die Auftritte der Bigband abgelaufen?

Wir sind zum Beispiel in die Schulen gegangen, in denen es eine Bigband gab. Die hat dann ein Set mit einem Solisten von uns gespielt, und wir als Bigband haben den zweiten Teil bestritten. Das war Teil unseres kulturpolitischen Auftrags. Größtenteils war es ein verständiges Publikum, auch mit zwei Stunden angeregtem Free Jazz konnte man die Leute nicht überfordern.

Besteht die Gefahr, dass dieser Kulturauftrag unter die Räder kommt? Wenn heute über die Leistungen der Öffentlich-Rechtlichen diskutiert wird, dann ja selten über die ihrer Orchester und Bigbands.

Beim NDR gibt es diese Gefahr nicht. Die Bigband ist ein Aushängeschild. In den 1980er-Jahren haben das aber keineswegs alle im Haus so gesehen. „Die haben fünf Saxophone, vier doch sind auch genug“ – auf diesem Niveau verlief teilweise die Argumentation. Aber dann kamen Anfang der 1990er-Jahre Gernot Romann als Programmdirektor und Jobst Plog als Intendant, und die haben sich für uns eingesetzt. Plog und der jetzige NDR-Intendant Lutz Marmor haben uns immer unterstützt beziehungsweise tun es jetzt noch.

Die NDR-Bigband hat unter anderem mit dem legendären Trompeter Chet Baker zwei Wochen vor dessen Tod eine Platte aufgenommen, aber auch gelegentlich Auftragsarbeiten fürs öffentlich-rechtliche Fernsehen erledigt, zum Beispiel als Studioband in TV-Shows. Wie ging das zusammen?

Es muss ja alles gut gespielt werden. Den größten Mist kann man schlampig spielen oder präzise. Bei Hans-Joachim Kulenkampffs „Einer wird gewinnen“ waren wir drei- oder viermal. Mir hat das Spaß gemacht. Wie heißt der andere, der immer gesprungen ist und „Das war spitze“ gerufen hat?

Hans Rosenthal.

Ja, bei dem haben wir auch gespielt, dem wollten wir mal ein leicht swingendes Stück unterjubeln. Das ist uns aber nicht gelungen. Der Kulenkampff hat mich Anfang der 1980er-Jahre, kurz nachdem ich bei der NDR-Bigband eingestiegen war, in der Kieler Ostseehalle übrigens als „meinen guten alten Freund Dieter Glawaschneg“ vorgestellt. Das habe ich mir monatelang anhören müssen, in Graz hieß es immer: „Schau, der Glawaschneg kommt.“ Da dachte ich mir: Unglaublich, wie viele Leute sich so eine Sendung anschauen.

Wieso haben Sie für das Konzert der NDR-Bigband zu Ihrem 80. Geburtstag ausgerechnet Lieder zu Texten des österreichischen Dichters Ernst Jandl komponiert?

Mich hat stets gestört, wie in den alten Sonntagsvormittagssendungen im Radio Musik und Literatur präsentiert wurden. Nach dem Motto: erst ein Adagio von Mozart, dann ein Gedicht von Rilke. Text und Musik standen da immer bloß nebeneinander.

Was ist mit den „Jazz & Lyrik“-Sendungen, die der 2000 in Hamburg verstorbene Musikjournalist Joachim-Ernst Berendt in den 50er- und 60er-Jahren für den damaligen Südwestfunk gemacht hat?

Dieter Glawischnig

80, der in Graz geborene Pianist und Dirigent ist eine der prägenden Persönlichkeiten in der Jazz-Geschichte Norddeutschlands.

Er war von 1980 bis 2008 Chefdirigent der NDR-Bigband, nahm Platten mit Größen aus verschiedensten Bereichen des Jazz aufgenommen, unter anderem mit Chet Baker und Anthony Braxton. In Orchester-Kompositionen brachte er Literatur und Jazz auf eine ganz neue Weise zusammen.

1985 rief er den eigenständigen Fachbereich Jazz an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg ins Leben.

Aber auch da gab es keine wirkliche Verbindung von Text und Musik. Ich wollte dagegen librettoartig eine Interaktion zwischen Text und Musik herstellen. Die Musik muss aus der Struktur des Textes entstehen oder mit deren emotionalem Gehalt verbunden werden. Dabei muss die Musik so gehaltvoll sein, dass man sie auch ohne Text spielen kann. Ich habe auf diese Weise fünf, sechs größere Werke geschrieben, Melodramen in der Tradition des 19. Jahrhunderts – mit dem Sprecher als Hauptsolisten.

Vom wem eigentlich ging die Initiative für Ihre Zusammenarbeit mit Ernst Jandl aus?

Da bin ich mir gar nicht mehr sicher. Auf jedem Fall haben wir im Forum Stadtpark, einem auch international bekannten Künstlerclub in Graz, wo Peter Handke und viele andere groß geworden sind, schon ab Mitte der 1960er Konzerte gespielt – im Duo und im Trio. Wolfgang Kunert, der frühere Jazz-Abteilungsleiter beim NDR, hörte ein Konzert von mir und Jandl, und auf Kunerts Initiative entstand die Produktion „Laut und Luise“ mit der NDR-Bigband. Die haben wir 1982 in der Fabrik in Hamburg uraufgeführt – ein Riesenerfolg. 1989 entstand eine weitere Kooperation mit Jandl: „Aus der Kürze des Lebens“. Meine Absicht bei den Jandl-Texten war, sein ganzes philosophisches und auch sonst breites Spektrum darzubieten.

Der marxistische Historiker Eric Hobswawn hat schon vor mehr als einem halben Jahrhundert befürchtet, dass Jazz sich „in eine zweite Version der klassischen Musik“ verwandelt. Ist das mittlerweile passiert?

Ja, klar, Jazz ist schon Klassik. Wenn man richtig Jazz spielt, sagen manche, das ist schon viel zu alt. Der Kern von Jazz muss aber schon bleiben, ein rhythmisches Element muss drin sein, sonst kann man gleich einpacken. Es sind ja derzeit Soundspieler en vogue, die Klänge aus Instrumenten herausholen, die man sonst nicht spielt. Krch-Krch-Krch – so etwas in der Art. Manchmal kommt es mir vor, dass ein normaler Ton da fast verboten ist.

Und das gefällt Ihnen nicht?

Ach, diese ganzen Lamenti – der Bebop zerstört den Swing, der Free Jazz zerstört den Bebop – waren ja auch Humbug. Insofern muss man vorsichtig sein, wenn man jetzt sagt, dass diese Soundspieler den sogenannten echten Jazz zerstören. Irgendetwas wird sich daraus schon entwickeln, der Jazz hat ja immer wieder die Kraft zur Selbsterneuerung bewiesen. Mir fällt da ein Gedicht von Jandl ein: „Zerbrochen sind die harmonischen Krüge der Klassiker, aber der Ton und das Wasser drehen sich weiter in den Hütten der Töpfer.“ So ist es.

NDR-Bigband zum 80. Geburtstag von Dieter Glawischnig: 16. Juni, Rolf-Liebermann-Studio, Hamburg.

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