: Dem Monster so nah
Der Hamburger Komponist Jan Dvořák hat auf der Grundlage von Mary Shelleys „Frankenstein“ seine erste Oper geschrieben. Philipp Stölzl bringt sie auf Kampnagel als bildstarkes Melodrama auf die Bühne
Von Robert Matthies
Da stimmten alle Zutaten: Es war eine sagenumwobene verregnete Nacht im „Jahr ohne Sommer“ 1816, in der Mary Shelleys Geschöpf im in Opium-Tinktur getränkten Hirn der damals gerade mal 19 Jahre alten britischen Schriftstellerin erste schaurige Züge angenommen haben soll. In der Villa Diodati am Ufer des Genfer Sees verbrachte Shelley damals den Sommer gemeinsam mit ihrem geliebten Percy Bysshe Shelley, dem exzentrischen Romantiker Lord Byron und dessen Geliebter, der Schriftstellerin Claire Clairmont, sowie Byrons Leibarzt, dem Schriftsteller John William Polidori. Nachdem man den Sommer damit zugebracht hatte, ausschweifende Partys zu feiern, sich deutsche Gruselmärchen vorzulesen und allerlei philosophische, politische und spiritistische Fragen zu disputieren, fasste das Quintett den Entschluss, selbst grausige Geschichten zu schreiben.
Polidori schrieb daraufhin die erste Vampir-Erzählung der Weltliteratur, Shelley begann den Roman, der ihr 1818 den Durchbruch bringen sollte: „Frankenstein oder Der neue Prometheus“ – die Geschichte vom jungen Schweizer Wissenschaftler Viktor Frankenstein, der an der Universität Ingolstadt aus Fleischlappen und Gebeinen vom Friedhof ein künstliches Lebewesen zusammenbaut, vor den Konsequenzen seines Tuns flieht und endlich vom von allen ausgestoßenen Ungetüm ins Verderben gestürzt wird.
Zum 200-jährigen Jubiläum des Gruselliteratur-Klassikers hat der Berliner Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl gemeinsam mit dem Hamburger Komponisten Jan Dvořák die Geschichte um die Hybris des schöpfergleichen Menschen im Auftrag der Staatsoper als Musiktheater inszeniert.
Schon vor knapp drei Jahren hatte Stölzl „Frankenstein“ auf die Bühne des Theaters Basel gebracht – ohne allzu viel Tiefe, aber mit einem umso beeindruckenderen Monster. Dvořák, derzeit Operndramaturg in Mannheim, bastelte dafür aus dem verschachtelten Roman rund zwei Dutzend bildstarke Szenen und steuerte Musik bei.
Die Opernfassung, für die Dvořák nun die Musik ebenso wie das Libretto schrieb und die auf Kampnagel uraufgeführt wurde, ist deutlich erkennbar eine Weiterentwicklung der Baseler Aufführung. Auch hier ist die Bühne ein umzäuntes Quadrat, um das herum Publikum und Orchester sitzen und in dem der ausgebildete Bühnenbildner und Filmprofi Stölzl (unter anderem: „Nordwand“, „Der Medicus“ und Videos für Rammstein und Madonna) mit sparsamen Requisiten, viel Maschinen-Nebel und Lichtzauber einen düsteren Wald, Frankensteins Labor, einen Friedhof und schließlich eine arktische Eislandschaft entstehen lässt. Breitbildleinwand-Theater nennen Stölzl und Dvořák das erklärte Ziel.
Auch die Hamburger Aufführung lebt vor allem vom beeindruckenden Monster, das der Figurenspieler Marius Kob für die Baseler Aufführung geschaffen hat. Fast drei Meter groß ist das Monster, mit zarter, durchscheinender Haut, einem Totenschädel als Kopf und Vogelbeinen. Drei Puppenspieler*innen geben dem Ungetüm Mimik und Gestik, Seele haucht ihm aber vor allem die Schauspielerin Catrin Striebeck von einer Empore über der Bühne ein: Striebeck singt nicht, sondern krächzt, jauchzt, wütet und winselt, dass man Gänsehaut bekommt vor Mitgefühl mit der geschundenen und von allen gehassten Kreatur, die sich schließlich gegen ihren Schöpfer wendet, weil der sie nicht annimmt und ihr kein guter Vater ist.
Denn statt all die Fragen aufzugreifen, die in Zeiten von Posthumanismus und künstlicher Intelligenz ums vom Menschen geschaffene Geschöpf anklingen, haben sich Stölzl und Dvořák entschieden, die Geschichte aus der Perspektive des Monsters zu erzählen, als Entwicklungsroman des künstlichen Kindes und als melodramatisches Roadmovie von Ingolstadt bis in die Arktis.
Hinter den starken Bildern verschwindet dabei leider die Musik zu häufig, nicht nur, weil sie oft schlicht zu leise aus dem Bühnenhintergrund dringt. Ein wenig zu schüchtern liefert Dvořák einen Soundtrack aus Naturklängen und melancholischer Stimmung. Nur ab und an brechen B-Movie-Schauerklänge, Mahler-hafte volkstümliche Heiterkeit oder neutönende Dissonanzen durch. Auch gesanglich beschränkt sich Dvořák bis auf ein paar wirklich berührende Arietten auf deklamierendes Parlando.
Alles in allem aber ergibt der mit knapp über drei Stunden doch etwas zu langatmig geratene Abend guten Sinn: So nah ist man dem Monster noch nicht gekommen, so eindringlich wurde sein Ringen um Würde noch nicht auf die Bühne gebracht. Da brauchen nicht alle Zutaten zu stimmen.
„Frankenstein“: zum letzten Mal So, 27. 5., 16 Uhr, Kampnagel
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