Zum Feierabend : Der alte Mann
So gut wie jeden Freitag zur Feierabendzeit sehe ich einen alten Mann, wie er die Abkürzung zwischen der Frankfurter Allee und der Boxhagener Straße nimmt, eine Freifläche, die früher ein wilder Parkplatz war und mittlerweile eine gepflegte Grünfläche mit im Gehweg installierten Lampen ist, die in der Nacht die Augen blenden. Es überrascht mich, wie oft es der Zufall will, dass der alte Mann gerade dann unten vorbeiläuft, wenn ich oben in der vierten Etage am Fenster meiner Küche stehe. Wie ein Voyeur schaue ich auf ihn hinunter, wo er mit gebeugten Schultern, die immer einen schweren Rucksack tragen, entlangläuft. Bedächtig, aber nicht langsam setzt er einen Fuß vor den anderen. Jedes Mal frage ich mich, woher er wohl kommt, wohin er wohl geht, was er wohl in seinem Rucksack hat.
Neulich sah ich ihn zu ungewohnter Zeit auf ungewohntem Terrain. Ich saß, die letzten Sonnenstrahlen des Herbstes genießend, an einem Dienstagvormittag vor einem Café in der Simon-Dach-Straße und las Zeitung. In Gedanken war ich noch bei dem gut aussehenden und sympathischen Kellner, über dessen Alter ich mir nicht im Klaren war, als der alte Mann vorbeilief, den ich bisher nur von der Draufsicht kannte. Er hatte die Schultern gebeugt, obwohl er ohne Rucksack unterwegs war. Etwa einen Meter hinter ihm lief eine Frau mit blonden Haaren, die vom Alter her seine Tochter sein könnte.
Aber ich glaubte nicht, Zeuge eines Vater-Tochter-Spazierganges zu sein. Dazu passte die Frage nicht, die die Frau dem Mann stellte. „Wie alt bist du eigentlich?“ Ich spitzte die Ohren. „75?“ Der Mann blieb einen Moment stehen und drehte sich langsam um. „78“, antwortete er wie beiläufig. „Das ist ja noch schlimmer, oh weia!“, rief die Frau und trottete dem Mann hinterher, der bedächtig, aber nicht langsam seinen Weg fortsetzte und dessen Alter ich jetzt immerhin weiß. BARBARA BOLLWAHN