: Übergriff oder Ständchen?
Über den Auftritt linker Demonstranten vor dem Wohnhaus eines Polizisten in Hitzacker wird gestritten
Von Reimar Paul
Die Demonstration von Linken vor dem Haus eines Polizisten in Hitzacker schlägt weiter Wellen. Der Rechtsstaat dürfe sich das Einschüchtern und Schikanieren von Polizisten nicht bieten lassen, erklärte CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer. Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) bezeichnete den Vorfall als eine „unfassbare Grenzüberschreitung“.
Es sei doch nur eine „Demonstration mit Transparenten und Gesang, mit Sprechchören und Musik“ gewesen, halten Teilnehmer dagegen. Gewalt sei ausschließlich von der Polizei ausgegangen. Die Berichte von Beteiligten, Beamten und Augenzeugen geben immer noch ein unvollständiges Bild.
Übereinstimmung besteht, dass sich am Freitagabend 60 bis 80 teils vermummte Leute – unter ihnen auch Straßenmusiker – vor dem Grundstück des Polizisten versammeln. Sie sind aus dem nahen Gorleben gekommen, wo am Nachmittag 2.000 Menschen friedlich gegen die Atomanlagen protestiert haben. In Gorleben ist an diesem Tag auch H. eingesetzt, im Haus befinden sich seine Frau und die beiden Kinder. Demonstranten hissen vor dem Grundstück eine Fahne mit dem Emblem der syrisch-kurdischen Miliz YPG, andere befestigen am Carport prokurdische Flaggen. Gleichzeitig stimmen die Aktivisten Sprechchöre und Lieder an.
Was genau gesungen und gerufen wird, ist unklar. Die Polizei spricht von „lautstarker Stimmungsmache“ und dem Versuch, „die allein anwesende Familie des Polizeibeamten einzuschüchtern“. Olaf H. gehört zur Staatsschutzabteilung der Polizei Lüneburg. Der „übermotivierte“ Beamte malträtiere seit Monaten linke Projekte, heißt es in einer Mitteilung des Gasthofs Meuchefitz. H. sei auch an einem Einsatz im Februar beteiligt gewesen, als eine Hundertschaft ein YPG-Transparent von der Kneipenfassade entfernte. Danach veröffentlichten linksradikale Internetforen H.s Namen und seine Adresse.
Inzwischen ist eine aus Gorleben abgezogene Einheit der Oldenburger Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit auf dem Weg nach Hitzacker, auch H. fährt mit. Die Demonstranten ziehen sich zurück – und geraten gegen 20.45 Uhr mit den Beamten aneinander. Die Polizei spricht von „Handgreiflichkeiten und Widerstandshandlungen“.
Die Beamten hätten ohne Vorwarnung auf die Menschen eingeschlagen, so schildern es Demonstranten. Ein junger Mann, der sich Andreas nennt, sagt: „Die haben mich einfach umgerissen und dann weiter auf mich eingeschlagen, als ich schon dalag.“ Von den Polizisten sei nur H. unvermummt gewesen, er „trat in Rage auf am Boden liegende Personen ein“. „Etwa zehn“ Menschen seien verletzt worden, einer davon schwer. Unsinn, kontert die Polizei. Es sei ein „Handgemenge“ entstanden, alles sei „rechtsstaatlich“ abgelaufen. Die Beamten melden insgesamt vier leicht verletzte Personen.
Am Bahnübergang kesseln Polizisten die Demonstranten ein. Ihre Personalien werden festgestellt, sie erhalten Platzverweise, drei (laut Polizei) oder vier (laut Beteiligten) müssen mit aufs Revier, zwei bleiben in Gewahrsam und werden am Samstag einem Haftrichter vorgeführt, anschließend aber freigelassen.
„Mit dem gezielten ‚Angriff‘ auf personifizierte Polizeibeamte als Privatpersonen und ihre Familien wurde in der Region eine neue Dimension der Gewalt gegen Polizeibeamte erreicht“, bilanziert die Polizei. Aus Sicht der Demonstranten werden die Vorfälle aufgebauscht, um Verschärfungen im neuen Landespolizeigesetz zu rechtfertigen.
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