: Groove einer aufgeregten Welt
Er tanzt im Wedding auf allen Fluren. Und ein ganzes Heer wilder Kinder tanzt mit: Ein Einblick in die Arbeit des Choreografen, Tänzers, Theatermachers, Kulturmanagers und Pädagogen Kosmas Kosmopoulos
Von Astrid Kaminski
Der Esel schreit, der Hund schreit, der Hahn schreit. Wenn die Kinder der vierten Klasse der Gesundbrunnen-Grundschule „Die Bremer Stadtmusikanten“ proben, dann geht ein Antrieb durch ihre Körper wie bei einem Flugzeug kurz vor dem Start. Die Energie, die sie benutzen, um Wörter über die Rampe zu bringen, wirkt wie ein Akt der Selbstbehauptung. Eine Kampfkunst des Sprechens.
Der Tänzer, Choreograf, Theatermacher, Kulturmanager und Pädagoge Kosmas Kosmopoulos – keine dieser Qualifikationen dürfte für seinen Job fehlen – hat sichtbar Spaß an der Turbo-Dynamik und eine raumgreifende, gut gesetzte Stimme. Außerdem hat er, wie er es nennt, „einen Kanaken- und Männerbonus“. In einer Schule, die vier Willkommensklassen eingerichtet hatte, die zu 97 Prozent von Kindern nichtdeutscher Herkunft besucht wird, spielt so ein Bonus eine Rolle. Viele Kinder wachsen mit traditionellen Rollenbildern auf, der Imam gilt im Zweifelsfall als übergeordnete Autorität. Tanzende Lehrer entsprächen, meint Kosmopoulos, zwar nicht unbedingt den Vorstellungen der Schülerväter, aber „sobald sie sehen, dass ich nicht nach Ballett aussehe, scheinen sie ganz gut damit umgehen zu können“.
Ihre Herkunft bleibt für die Kinder ein Thema. Für das freiwillige Tanzprojekt, das an Wochenenden und schulfreien Tagen für Schüler*innen der sechsten Klassen stattfindet, arbeitet Kosmopoulos zusammen mit der HipHop-Lehrerin Fidan Sirin und dem Capoeirista Nego. Nach dem Aufwärmen fragt ein Schüler: „Wie redet man in Portugal? Portugiesisch oder Spanisch?“ Antwort des angesprochenen Nego, der seit acht Monaten in Berlin ist und auf Deutsch unterrichtet: „Ich komme aus Cuba und ich spreche Spanisch.“ Schüler: „Ah, spanische Wurzeln.“
Tänzer wollte Kosmopoulos zu eigenen Schulzeiten an der deutschen Schule in Athen nicht werden: „Ich war ein leicht übergewichtiges Kind, das in einer Großfamilie aufwuchs und sich stundenlang eingeschlossen hat, um zu lesen. Den ganzen (Gabriel García) Márquez.“ Mit 17 sah er Wim Wenders’ „Himmel über Berlin“, fünf Tage später war er in der westdeutschen Exklave. 1989, zwei Monate vor der Wende. Er studierte an der FU Theaterwissenschaften und Germanistik, kellnerte in einem Biersalon am Ku’damm. Die Mauer fiel. Einerseits in Berlin, andererseits in Pina Bauschs Tanztheaterstück „Palermo Palermo“, wofür der Student per Mitfahrgelegenheit über die Transitautobahn nach Wuppertal gefahren war. Das bereits vor der Wende konzipierte Stück beginnt mit einer einstürzenden Ziegelwand vor dem Bühnenportal.
Damit war für den Studenten auch die Mauer zum Tanz gefallen. Er nahm intensiv Unterricht, begann journalistisch über Tanz sowie auch über die Postwendezeit zu schreiben. Mit seinem Sinn für Neues bewarb er sich in Brüssel für den Pilot-Jahrgang von P.A.R.T.S.. Die Ausbildung, die zunächst auf einem Tanzteppich zwischen den Schuttresten einer Industriehallen-Architektur stattfand, gilt heute als weltweit renommierteste Schule für zeitgenössischen Tanz.
Dass er den Grundschüler*innen-Clan ins Herz schloss und umgekehrt, dass er so viel Zeit von seiner eigenen künstlerischen Laufbahn abzweigte, dafür ist die Rektorin der Gesundbrunnen-Grundschule, Manduela Krüger, mitverantwortlich. Sie sah den zukünftigen Tanzlehrer ihrer Schule im soziokulturell engagierten Weinmeisterhaus in Berlin-Mitte unterrichten. Der Verein des Hauses ist bis heute Träger für viele der Projekte.
„Tanz und Theater sind das Beste für meine Kinder“, dachte sich die heutige Rektorin, die damals noch an der Anna-Lindh-Grundschule war. Künstlerische Sprachförderung, Verschaltung rechter und linker Gehirnhälfte sowie auch nonverbale Kommunikation, das waren die Komponenten, die sie interessierten. Inzwischen sind Tanz und Theater fest in ihrer Schule verankert. Im frisch sanierten Direktionsbüro führt sie durch eine kleine Galerie: Flyer von Märchenaufführungen. „Ich glaube, wir hatten sogar schon einmal einen König mit Förderstatus. Ja, hier ist er“, freut sie sich und zeigt auf ein Kinderfoto.
Obwohl sich Bundes- und Länderverbände dafür starkmachen, steht Tanz in Schulen nicht im Stundenplan. Die Gelder, um sich und seine Projekte zu finanzieren, besorgt Kosmopoulos weitestgehend selbst. Aus den Fördertöpfen dreier verschiedener Bundesministerien, bei Stiftungen und Sponsoren. Inzwischen legt er damit die Basis für ein etwa 20-köpfiges Künstler*innen- und Pädagog*innen-Team. Freizeitausflüge mit Schwimmen und Toben, gemeinsames Kochen und Essengehen, Auslandsfahrten und, nicht zuletzt, viele öffentliche Tanz- und Theater-Auftritte haben ihn für Kinder, Eltern und Kolleg*innen zur Vertrauensperson werden lassen.
Daran, dass es unter den existierenden Bedingungen nicht reicht, ein hervorragender Tänzer und Pädagoge zu sein, lässt Rektorin Krüger keinen Zweifel: „Allein würden wir es nicht schaffen. Wir brauchen Künstler, die gleichzeitig Kulturmanager sind“. Kosmopoulos, der sich die gesamte soziokulturelle Infrastruktur des Wedding erschlossen hat und dort nicht ohne ein „Hallo“ über die Straße gehen kann, ist es wichtig, dass die Schule zum Sprungbrett in die Umgebung wird: „Die Kinder fühlen sich bei ihren Familien aufgehoben, nicht in der Stadtgesellschaft. Man muss ihnen beibringen, dass es auch dort Möglichkeiten gibt, Halt zu finden und sich eine Position zu verschaffen.“
Wie er es zusätzlich schafft, griechisch-deutsche Tanzaustauschprojekte zu organisieren und für die professionellen Teilnehmer*innen jährlich auf hohem Niveau eine Choreografie zu entwickeln und zu produzieren? Er braucht beides. Sowohl die Erwachsenen- als auch die Kinderarbeit führen künstlerisch zu Ergebnissen mit existentiellen Energien und einer rauen, klaren Ästhetik. Einmal in einer abstrakten, spannungsgeladenen Tanzsprache, die den Raum zwischen Vereinzelung und Gemeinschaft auslotet, einmal im Groove einer Welt, die laut, aufgeregt und voller ungerichteter Kraft ist. Einer Welt, die oft nur in der Befehlsform zu ordnen ist. Und mit Zuneigung und Humor. Kosmopoulos hat ein Lachen, in das die ganze Welt zu passen scheint.
Wenn nach einer wilden sozialen Übung auf Popmusik plötzlich Ruhe einkehrt, etwa in den Atem-, Dehn- und Entspannungseinheiten des Unterrichts, fühlt es sich an wie in einer Oase. „Danke!“, rutscht es einer Zweitklässlerin plötzlich mitten in der Stille heraus. Dann findet sie es komisch. „Danke für was? Nix danke“, korrigiert sie sich verwirrt. Aber irgendwie bleibt es im Raum stehen.
„Wir spielen Märchen“: 23.–25. 5. 2018; „Berge der Sehnsucht“: 25.27. 5.2018, Uferstudios, Berlin-Wedding.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen