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„Scheinheiligkeit“ der Stadt

In Göttingen schmiss die Polizei am Sonntagmorgen die Studierenden aus einem besetzten Wohnheim

Von Reimar Paul

Ein Großaufgebot der Polizei hat am Sonntag das seit einer Woche besetzte Studentenwohnheim in Göttingen geräumt. Gegen sieben Uhr morgens fuhren Dutzende Mannschaftsfahrzeuge vor dem Gebäude im Ostviertel auf, Streifenwagen sperrten die umliegenden Kreuzungen ab. In dem Haus nahmen die Beamten die Personalien von mehr als zwanzig jungen Leuten auf, die keinen Widerstand leisteten. Vor dem Wohnheim und an den Absperrungen sammelten sich währenddessen an die 100 Unterstützer. Später formierten sie sich zu einer spontanen Demonstration durch die Innenstadt.

Die Besetzung des leer stehenden Wohnheims hatte am Montag vergangener Woche begonnen. Das Gebäude und eine angrenzende Villa gehören der Stadt, die die beiden Immobilien an das Goethe-Institut vermietet. Weil das Institut bald in ein neues Haus umzieht, waren die Studierenden schon vor mehreren Monaten ausgezogen.

Die Stadtverwaltung will den gesamten Gebäudekomplex veräußern und den Erlös unter anderem in Schulen und Kitas investieren. Die Besetzer hingegen verlangten, der Verkauf sollte gestoppt werden und Flüchtlinge aus der umstrittenen Sammelunterkunft Siekhöhe zusammen mit anderen Wohnungssuchenden in das Wohnheim einziehen.

Vergangene Woche hatte das Goethe-Institut einen Strafantrag gegen die Besetzer gestellt. Den Aktivisten drohen nun Anzeigen wegen Hausfriedensbruchs. Auch der Verdacht auf Sachbeschädigung stand im Raum, die Polizei begutachtete nach der Räumung die Flure und Zimmer des Wohnheims auf mögliche Schäden. Ein Sprecher der Stadt sagte aber am Nachmittag, nach ersten Erkenntnissen sei keine zusätzliche Sachbeschädigung am besetzten Gebäude erfolgt.

In einer Erklärung kritisierten die Besetzer das Vorgehen der Stadt, insbesondere den Polizeieinsatz. Statt ein Großaufgebot zur Räumung zu schicken, solle sich die Stadtverwaltung einer inhaltlichen Auseinandersetzung stellen, forderten sie. Angesichts des friedlichen und offenen Charakters der Besetzung erscheine das massive Polizeiaufgebot als Einschüchterungsmaßnahme, mit dem Aktivisten von weiteren Aktionen abgehalten werden sollen.

Trotz der Räumung wertet die Gruppe die Besetzung als großen Erfolg. Sie habe aufgezeigt, dass „realistische und schnell umsetzbare Alternativen zu der bisherigen desaströsen Politik bestehen“. Die Stadt selbst verfüge über Gebäude, die als Wohnraum sofort nutzbar gemacht werden könnten. Verwaltung und Stadtrat müssten nur den politischen Willen dazu aufbringen.

Die Grüne Jugend verurteilte die „Scheinheiligkeit“ der Stadt: Dass mit dem Verweis auf dringende Investitionen verschiedene Bedürftige gegeneinander ausgespielt würden, sei „ein Unding“. Die Besetzer hätten mit ihrer Aktion die Widersprüche von Stadt und Verwaltung „perfekt aufgezeigt“.

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