piwik no script img

Tanz die Inklusion

Für den Film „Mensch, mach mir Platz!“ hat der Bremer Filmemacher Ulli Scholz drei Jahre lang das inklusive Jugendtanztheaterprojekt „Die Anderen“ mit der Kamera begleitet. Ein unmittelbarer, menschlicher Film

Von Wilfried Hippen

Der Film „Mensch, mach mir Platz!“ ist zugleich ein Teil des Projekts „Die Anderen“ und seine Dokumentation. Drei Jahre lang haben die Tanzpädagoginnen Inga Becker und Alexandra Benthin mit einer Gruppe von 23 Kindern und Jugendlichen zwischen sieben bis siebenundzwanzig Jahren gearbeitet, von denen fünfzehn Beeinträchtigungen haben und acht nicht.

Traditionell gibt es am Ende eines solchen Projekts eine große Tanzperformance der Gruppe auf einer Bühne, und so war es auch in den ersten zehn Jahren des Projekts „Die Anderen“ üblich. Doch Becker und Benthin fanden, dass ihre inklusive Arbeit so kaum sichtbar sei, und entschieden, stattdessen mit ihrer Gruppe nach draußen, in das Bremer Ostertorviertel, zu gehen. Dort fanden sie auf den Straßen öffentliche Räume für ihre Performances. Außerdem ließen sie das Projekt dieses Mal von Anfang an mit einer Kamera begleiten, sodass ein Film entstand. Mit diesem Medium, so finden sie, kann man am besten zeigen, was die Gruppe in den drei Jahren gemacht hat und wie sich die einzelnen Teilnehmer dabei verändert haben.

Solche Langzeitbeobachtungen mit Kindern und Jugendlichen sind filmisch schon deshalb immer reizvoll, weil man dem Leben so gut bei der Arbeit zusehen kann. In drei Jahren verändern sich die Protagonisten deutlich. Am Schluss des Films werden sie alle in Vorher-Nachher-Bildern gezeigt. Das ist eine ganz konventionelle Regie-Idee, und auch sonst ist die Dokumentation „Mensch, mach mir Platz!“ kein sehr origineller Film. Aber das ist auch nicht der Anspruch des Filmemachers Ulli Scholz, der für Realisation, Kamera und Schnitt verantwortlich zeichnet, also abgesehen vom Ton alles selbst gemacht hat. Nur Regie hat er nicht geführt, was eher ungewöhnlich ist. Aber so wollten er und die beiden Projektleiterinnen deutlich machen, dass diese sich zumindest ebenbürtig als Schöpferinnen des Films verstehen. Auch dies ist eine inklusive, Hie­rarchien nivellierende Entscheidung und entspricht damit konsequent der Philosophie des Projekts.

Diese besteht darin, dass die Begegnungen der Teilnehmer miteinander wichtiger sind als ihre individuellen Leistungen. So werden beim Theatertraining, das einmal pro Woche stattfindet, keine Choreografien eingeübt, die möglichst synchron nachgetanzt werden müssen. Stattdessen wird im Probenraum improvisiert, damit die Teilnehmer lernen, sich selbst auszudrücken und in die anderen einzufühlen – und dies eher körperlich als mit Worten. So sollten sie etwa vor den anderen darstellen, als was für eine Art Mensch sie sich selbst sehen: zum Beispiel als Fuß-, Geld- oder Kopfmensch. In den Aufnahmen von der Szene sieht man, dass die Teilnehmer schon miteinander und mit der Kamera vertraut sind. So zeigen sie einige sehr expressive Tanzimprovisationen, die durchaus auch komisch sind, wenn beispielsweise ausgerechnet eine der kleinsten und jüngsten Teilnehmer sich selbst als einen „Kopfmenschen“ sieht und darstellt.

Eine andere Teilnehmerin kann sich auf der Straße nur mit einer Gehhilfe bewegen. Daraus ist eine Straßenimprovisation entstanden, bei der die ganze Gruppe mit Krücken und teils wilden Verrenkungen auf dem Bürgersteig tanzt. Bei einem Gespräch innerhalb der Gruppe stellte sich später heraus, dass sich einige an dem Wort „Krücke“ stören, weil es für sie unangenehme Assoziationen wachruft. Auch dieser Teil des Gruppengesprächs wurde in den Film aufgenommen, denn dessen Ansatz ist viel ganzheitlicher, als man auf den ersten Blick erwarten würde.

Einige Aktionen, die in der Dokumentation zu sehen sind, haben nichts mit Tanz zu tun. So machen manche Teilnehmer eintägige Praktika in ihren Wunschberufen. Der eine arbeitet als Verkäufer in einem Sportgeschäft, eine andere serviert Drinks in einer Bar und eine dritte füttert Tiere im Bremer Bürgerpark. Dabei wird nebenbei auch thematisiert, wie schwierig es für Beeinträchtigte ist, eine Lehrstelle zu bekommen, und dass viele von ihnen ihre Träume begraben und in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung wie dem Bremer Martinshof arbeiten werden.

In einer anderen Aktion zieht die Gruppe mit einem Rollstuhlfahrer durch das Bremer Viertel und testet an den Türschwellen verschiedener Läden, ob sie mit dem Stuhl zu überwinden sind. In einigen Läden veranstaltet sie Schaufenster-Performances, die von beiden Seiten der Scheibe aus gefilmt werden. Als das Pub­likum ebenfalls zu tanzen beginnt, ist das ein schöner, inklusiver Moment.

Das freie Spiel und den Spaß, den die Teilnehmer des Projekts haben, vermittelt der Film unmittelbar und intensiv

Es gibt auch Hausbesuche mit der Kamera, als zum Beispiel eines der Mädchen alle zu sich einlädt und ihnen ein kleines Konzert auf der Geige vorspielt. Auch ein paar Begegnungen mit den Familien der Kinder sind zu sehen, etwa als die Eltern einer Tochter mit Down-Syndrom am Küchentisch von ihrem Leben erzählen.

Das Projekt entwickelt sich im Laufe der Dokumentation in viele verschiedene, von den Teilnehmern vorgegebene Richtungen. All die Aktionen, Gespräche und Tänze verbindet, dass die Teilnehmer in der Gruppe zusammenfinden und lernen, sich immer besser gemeinsam auszudrücken. Dieses freie Spiel und den Spaß, den sie dabei haben, vermittelt der Film unmittelbar und intensiv.

Finanziert wurde das Projekt von einer Handvoll Stiftungen wie der „Aktion Mensch“. Am kommenden Sonntag ist die Premiere im Viertelkino Cinema. Die Gruppe will vor den Vorstellungen um 11 Uhr, um 13 Uhr und um 15 Uhr jeweils eine Performance geben.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen