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Der Krieg, das Watt und die Eltern

Tauche ich schon oder halluziniere ich noch? Beim Filmfest Schleswig-Holstein gibt es kurze und gute Filme zu sehen. Sie ergründen norddeutsche Welten zwischen Krieg, experimentellem Heimatfilm und Wahnsinn im Watt

Da stimmt doch was nicht vor dem Vanilla Sky: Marko Gebbert macht in „Abgetaucht“ als Vater nur vordergründig Camping-Urlaub mit der Tocher Foto: M. Boll

Von Wilfried Hippen

In dieser Woche wird das inzwischen 22. „Filmfest SH“ im Kieler Kino in der Pumpe veranstaltet. Am Freitag und Samstag werden in acht Programmen 25 Filme und Serienstaffeln gezeigt. Darunter Produktionen wie das Politiker-Porträt „Following Habeck“ oder die Web-Serie „Deichbullen“. Viele der von der Filmwerkstatt Kiel geförderten Filme kommen nicht in die Kinos und sind nur äußerst selten zu sehen. Da ist es nur folgerichtig, wenn die Filmwerkstatt selbst ein kleines Festival veranstaltet.

Die Palette der Genres ist groß. Es gibt allerdings keinen Film im Programm, der die Standardlänge von 90 Minuten oder gar mehr erreicht. Und so gelten, eher ungewöhnlich, bei der Einteilung für die Publikumspreise alle Filme, die länger als 20 Minuten sind, als „lang“.

Moritz Boll braucht bei „Null Komma Sieben“ nur drei Minuten, um eine kleine, komische Geschichte zu erzählen. „Null Komma Sieben“ ist auf eine Pointe hin inszeniert wird, und wenn diese zündet, ist die Übung gelungen. Das funktioniert dank zweier Mütter, die bei einer Geburtstagsfeier mit viel Sekt anstoßen und ihrer ebenfalls besoffenen Söhne (im Abspann wird eine Filmfigur nur „Junge mit Alkohol“ genannt). Sie lassen einen Alkoholtest bei einer Verkehrskontrolle pädagogisch äußerst bedenklich, aber dafür auch sehr komisch enden. Man kann auch sagen, dies ist ein Anti-Straßenverkehrs-Lehrfilm.

In „Abgetaucht“ erzählt Boll in 15 Minuten viel ernster und stimmungsvoller. Ein Vater und seine Tochter machen Urlaub in einem Campingwagen im Wald. Beide gehen sehr liebevoll miteinander um, aber man merkt schnell, dass etwas nicht stimmt. Während die Tochter das Abenteuer genießt, ist ihr Vater immer etwas gehetzt. Langsam wird klar, dass er versucht, seine Tochter zu verstecken. Boll ist nicht daran interessiert, hier eine Kriminalgeschichte zu erzählen, sondern konzentriert sich ganz auf den Vater, der verzweifelt versucht, seiner Tochter die heile Welt eines Ferienausflugs vorzugaukeln. Sie spielt aus Liebe zu ihm mit, obwohl sie ihn schon längst durchschaut hat. Das ist stimmig und plausibel erzählt.

Jahrelang schickte der Vater Briefe über sein abenteuerliches Leben auf der Tropen-Insel „Sandy Island“ – dann stellt sich heraus, dass er auf Pellworm war

„Sandy Island“ von Jan Wassmuth und Felix Zimmer ist ebenfalls eine Viertelstunde lang und auch hier geht es um einen Vater, der sein Kind anlügt. Allerdings ist Sohn Noah schon längst erwachsen und sein Vater gerade gestorben. Jahrelang hat er seinem Sohn Briefe über sein abenteuerliches Leben auf der tropischen Insel „Sandy Island“ geschrieben – doch als sich herausstellt, dass er die ganze Zeit über in Pellworm mit einem anderen Sohn gelebt hat, stürzt dies Noah in eine psychische Krise. Realität und Traumvisionen sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Der Film ist konsequent inszeniert und folgt einer Traumlogik, in der Noah sich plötzlich auf hoher See auf einer menschenleeren Fähre wiederfindet und nach den in der Tiefe des Meeres untergehenden Briefen seines Vater taucht. Ein Vorbild könnte Martin Scorseses „Shutter Island“ sein, in dem die vermeintliche Realität auch nur aus den Halluzinationen des Protagonisten besteht.

„Ein Jahr – Ein Tag – Eine Tide“ von Alexandra Pohlmeier ist ein experimenteller Heimatfilm. Zwischen 2007 und 2012 hat die aus München stammende Filmemacherin im nordfriesischen Dagebüll 30.000 Fotos vom Wattenmeer gemacht – immer aus der gleichen Perspektive. 37 von diesen Bildern, zu verschiedenen Jahres-, Tages- und Tidezeiten aufgenommen, hat sie nun zu diesem elfminütigen Film montiert, in dem sich das Meer in erstaunlich vielen Zuständen und Stimmungen zeigt, die sich alle aus Himmel, Sand, Wasser und Licht zusammensetzen.

Ganz ohne doppelten Boden, geradezu roh und kunstlos haben Kay Gerdes und Jess Hansen „Nach dem letzten Schuss ist der Krieg noch lange nicht vorbei“ gedreht. Sie haben nicht viel mehr gemacht, als ihre Kamera auf die Protagonisten zu richten und so ist dies eher Dokument als Dokumentation. Sehenswert sind seine 39 Minuten trotzdem, denn dies ist ein schönes Beispiel für die Möglichkeiten und die Relevanz von „oral history“. Eine Gruppe von alten Menschen erzählt von ihren Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Als Kinder wurden sie von ihren traumatischen Erlebnissen geprägt. Und sie erzählen davon, wie seelisch verkrüppelt ihre Eltern waren und ihre Gefühle nicht zeigen konnten – oder ganz verstummten. Viele sprechen offensichtlich zum ersten Mal so offen über diese inneren Verletzungen, die nie verheilt sind. Manchmal analysiert eine Therapeutin das Erzählte und spätestens dabei wird deutlich, dass sich diese Menschen in einer Gruppen­therapiesitzung offenbaren. Hier wird so viel von Schmerz, Verlust, Verletzungen, Hunger und Gewalt erzählt, dass es schwer zu ertragen ist. Deshalb haben die Filmemacher kleine Ruhepausen in ihren Film montiert, in denen sie nur Küstenlandschaften oder das offene Meer zeigen und abgesehen von ein paar Naturgeräuschen Stille herrscht. Gerdes und Hansen machen deutlich, wie zerstörerisch der Krieg ist und wie nachhaltig er die Menschen verändert. Es bleibt leider ein sehr aktueller Film.

Filmfest Schleswig-Holstein, von Freitag bis Samstag, ab 15 bzw. 13 Uhr, Kino in der Pumpe, Programmübersicht unter filmfest-sh.de

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