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Die 7-Tage-Revolution

Im Juni 1968 brechen die Studentenproteste wie zufällig in Belgrad aus. Dass die Hippies ganz brav Tito-Bilder vor sich her tragen, hilft ihnen nichts

Von Andrej Ivanji

Sozialistisch – aber kein Teil des Ostblocks. Weltoffen – aber jenseits der westlichen demokratischen Ordnung. Das blockfreie Jugoslawien mit seinem Selbstverwaltungssystem liegt zwischen den Welten. Und so ist auch die jugoslawische 68er-Bewegung geprägt von dieser sonderbaren Lage: Studenten lassen sich zwar lange Haare wachsen und schwören auf die Hippies, doch als die Proteste in Belgrad eskalieren, marschieren sie mit Fotos von Marschall Tito und fordern nicht etwa Demokratie, sondern mehr Sozialismus.

Der Grund für die Eskalation: eigentlich eine Nebensächlichkeit. Am 2. Juni 1968 soll ein Konzert in einem Belgrader Vorort stattfinden, genauer: auf einer Wiese in einer Studentensiedlung. Das Wetter ist schlecht, also verlegt man das Fest in einen Saal. Viele müssen draußen bleiben. Sie werfen Steine, ihre Würfe werden erwidert, es kommt zur Massenschlägerei. Die Polizei interveniert mit Schlagstöcken, Schüsse werden abgefeuert, zwei Studenten werden angeschossen. Am nächsten Morgen ziehen Tausende Studenten und Studentinnen aus der Siedlung ins Zentrum Belgrads, um gegen die Brutalität der Polizei zu protestieren. Wie es sich gehört, haben sie Fotos von Tito dabei. Die Polizei hat den Befehl bekommen, die Studenten aufzuhalten. Einzelne Politiker versuchen vergebens, sie vom Protestmarsch abzubringen.

Wieder kommt es zu heftigen Prügeleien mit der Polizei. Am Abend des 3. Juni erklären alle Dekane der Belgrader Universität den Generalstreik. Studenten und Studentinnen besetzen die Fakultäten. Gleichzeitig verfasst das Theater Atelier 212 eine Deklaration, die die Studenten unterstützt. Sie wird vor jeder Vorstellung verlesen. An der Spitze der Kommunistischen Partei überwiegt die Meinung, es wäre kontraproduktiv, die Proteste niederzuschlagen.

Die Dramaturgin, Kolumnistin und Aktivistin Borka Pavičević ist damals 21 und studiert an der Theaterakademie in Belgrad. „Wir forderten mehr Freiheit, mehr Gleichberechtigung, mehr Solidarität im Sinne von Albert Camus’ ‚Menschen in der Revolte‘ “, sagt sie. „In Jugoslawien war das vor allem eine Forderung nach mehr Sozialismus, weil die Klassenaufteilung immer ausgeprägter war.“ Eine Gruppe von Philosophen und Sozialwissenschaftlern, die sich Praxis-Gruppe nennt, vertritt damals die Ideen eines humanistischen und undogmatischen Marxismus.

„Wir schmissen Vertreter der Kommunistischen Partei aus der Akademie und gründeten einen Aktionsausschuss. Wir diskutierten bis zum Gehtnichtmehr“, erinnert sich Pavičević. Die Studenten wissen, dass Polizeispitzel unter ihnen sind, doch Angst haben sie keine, auch weil die Professoren geschlossen hinter ihnen stehen.

Pavičević bekommt in dieser „Woche des Aufstands“ die Aufgabe, Flugblätter zur Philosophischen Fakultät zu bringen. Sie zieht sich „kleinbürgerlich“ an, ein Kostüm mit Hut, und geht an den Polizisten vorbei, die zwar die Fakultät umzingeln, aber den Befehl haben, die Autonomie der Universität nicht zu verletzen.

Am 9. Juni wendet sich Marschall Tito im Staatsfernsehen an die Studenten. Mehr oder weniger gibt er ihnen recht und fordert sie auf, nach Hause zu gehen. Sie gehorchen, feiern den Sieg und singen Lieder für Tito. Pavičević ist enttäuscht. Angeblich soll Tito nach seiner Rede gesagt haben: „So macht man das, wenn man nicht rechtzeitig verhaftet.“ Als sich die Lage beruhigt, werden einige Professoren gefeuert, und Demonstranten landen im Gefängnis.

„Die Studentenproteste in Belgrad brachen zwar spontan aus, doch die Gesellschaft war reif dafür“, sagt Pavičević. „Wir veröffentlichten zuvor Cohn-Bendit, wir lasen Sartre.“ Viele fühlen damals etwas wie internationale Solidarität.

Während sowjetische Truppen in die Tschechoslowakei eindringen, scheint sich die jugoslawische Kultur im Juni 1968 endgültig in Richtung Westen zu bewegen. Der Schein trügt, 23 Jahre später wird der nationalistische Bürgerkrieg ausbrechen.

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