: Der Verrat im 20. Jahrhundert
Julia Kristeva, brillante Intellektuelle, Literaturwissenschaftlerin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin, hat für den bulgarischen Geheimdienst gearbeitet
Von Rudolf Balmer
Julia Kristeva zählt in Paris zweifelsfrei zu den brillantesten Intellektuellen der Gegenwart. Sie ist vielseitig interessiert und talentiert, sie ist weit über Frankreichs Grenzen hinaus als Sprach- und Literaturwissenschaftlerin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin bekannt. Wer sie schon einmal dozieren oder debattieren hört, ist beeindruckt von dieser blitzgescheiten und redegewandten Frau. Ihre Stimme zählt auch in der internationalen feministischen Debatte.
Unter dem Titel „Le génie féminin“ publizierte sie die Biografien von drei bedeutenden Frauen: Hannah Arendt, Colette und Melanie Klein. Ihr Curriculum vitae erwähnt die wissenschaftlichen Begegnungen und Kooperationen mit Roland Barthes, Michel Foucault, Jacques Derrida, Umberto Eco, um nur die Bekanntesten zu nennen, und die Heirat mit dem Erfolgsautor Philippe Sollers.
1965 durfte sie dank eines Stipendiums nach Frankreich ausreisen. Ihr Gatte Sollers erinnerte sich 1996 in einem Gespräch mit Libération: „Sie kam aus Bulgarien mit einem Koffer und fünf Dollar. Man hat sie als Kommunistin und Spionin behandelt. Sie wollte mich interviewen, ich habe sie nie lange verlassen. Sie war extrem hübsch und intelligent.“
Wusste Sollers damals, dass seine Frau unter dem Decknamen „Sabina“ tatsächlich eine Agentin war? Das zumindest geht aus einer bulgarischen Geheimdienstakte hervor, die dem Magazin Nouvel Obs zugespielt wurde. Diese lässt nicht viel Zweifel daran, dass die 1941 geborene Julia Kristeva als Informantin angeworben worden war. „Jemand möchte mir schaden“, meinte sie kurz zu diesen kompromittierenden Grüßen aus einer vergessenen Heimat und Vergangenheit. Dieses Dementi greift zu kurz und hat nur dazu geführt, dass als Folge davon aus Bulgarien weitere Dokumente aus den öffentlich zugänglichen Archiven aufgetaucht sind.
Es ist durchaus vorstellbar, dass sich Kristeva zu einer solchen Agententätigkeit verpflichten musste, um 1965 eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen. Doch war es nötig, der bulgarischen „Stasi“, der Dajarna Sigurnost, effektiv Informationen über Intellektuelle und kommunistische Weggefährten oder über Frankreichs Außenpolitik zu liefern, wie dies aus den Enthüllungen im Obs hervorgeht? Wie gravierend diese angeblich an einen Verbindungsoffizier nach Sofia gelieferten Informationen waren, ist im Nachhinein schwer einzuschätzen. Laut dem vorliegenden Archivmaterial soll sie namentlich über private Stellungnahmen des damaligen PCF-Chefs Roland Leroy oder die Haltung des Dichters Louis Aragon zur sowjetischen Intervention in der Tschechoslowakei berichtet haben. Pikanterweise ging Kristeva politisch selber auch andere Wege, indem sie sich mit Sollers für das maoistische China begeisterte.
Eine solche Spionage- oder Spitzeltätigkeit wäre heute strafrechtlich verjährt, peinlich bleibt sie aber allemal. Kristeva hat sich in ihrem intellektuellen Ehrgeiz den Eklat selbst eingehandelt: Sie wollte für ein bulgarisches Literaturmagazin schreiben, ein Gesetz aber verlangt, dass für vor 1976 geborene öffentliche Persönlichkeiten die Vergangenheit geprüft werden muss.
Die zuständige Lustrationskommission hat – erstmals seit ihrem Bestehen – inzwischen alle verfügbaren Dokumente online gestellt: das operative Dossier wie das persönliche Dossier. Daraus ergibt sich, dass sie 1971 nach einigen informellen Treffen offiziell als Informantin registriert wurde. Warum willigte sie, obwohl es für sie klar war, dass sie nach ihrer Heirat in Frankreich nicht nach Bulgarien zurückgehen würde, in eine Zusammenarbeit mit dem bulgarischen Geheimdienst ein? Am ehesten lässt es sich mit der Sorge um ihre Eltern erklären. Ihre Akte zeigt: Ihr Briefverkehr mit den Eltern wurde genauestens überwacht.
In der Folge erwies sie sich dann als ziemlich unzuverlässige informelle Mitarbeiterin, die nicht zu den verabredeten Treffen erschien und wenig brauchbares Material lieferte. Am 4. Mai 1974 beendete daher der bulgarische Geheimdienst die Zusammenarbeit.
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