Ein unendliches Gespräch

In seinem Projekt „Mutterzunge“ hat der Kurator Misal Adnan Yıldız erstmals die vielen Fäden der türkischen Kunst-Community in Berlin zusammengeführt

„Zunge hat keine Knochen, wohin man sie dreht, dreht sie sich dorthin“: Eröffnungs-lesung von Emine Sevgi Özdamar beim großen „Mutter-zunge“-Abend im Kino Babylon Foto: Ingo Arend

Von Ingo Arend

„Irgendwann habe ich gemerkt, dass meine Fehler meine Identität sind. Und dass daraus eine neue Sprache entstanden ist.“ Emine Sevgi Özdamars Satz stammt aus dem Jahr 1991. Dem Fernsehen versuchte die deutschtürkische Schriftstellerin damals, ihr Verhältnis zur Literatur zu erklären. Wenig später gewann sie als erste Nichtmuttersprachlerin den Ingeborg-Bachmann-Literaturwettbewerb im österreichischen Klagenfurt.

Ein Kunstprojekt nach Özdamars erstem, 1990 erschienenen Roman „Mutterzunge“ zu nennen, ist keine so abwegige Idee. Das Verständigungsproblem migrantischer Kultur, das der Titel ausdrückt, hat bis heute etwas Paradigmatisches. Und es schlägt den Bogen von damals zu heute. War Özdamar, als sie 1976 nach Deutschland kam, noch eine der wenigen migrantischen Künstler*innen, leben heute Tausende von ihnen in Deutschland.

Genau um diese Probleme von Orientierung und Übersetzung kreist das Projekt, das der Istanbul-Berliner Kurator Misal Adnan Yıldız zusammengestellt hat. 1976 in Istanbul geboren, begann der studierte Psychologe und Kunst- und Kommunikationsdesigner als Kurator. Von 2011 bis2014 leitete er das Künstlerhaus Stuttgart, von 2014 bis 2017 den Artspace NZ im neuseeländischen Auckland.

Kuratieren ist für Yıldız kein Modewort. „Es geht nicht ­darum, Künstler auszusuchen, sich einen poetischen Titel auszudenken und das Ganze dann Show zu nennen. Beim Ausstellungsmachen bin ich daran interessiert, kritisches Denken und soziale Verbindungen zu entwickeln“, erklärt der 41-Jährige seinen Ansatz. Für sein Konzept war er 2014 mit einem der drei Curate Awards ausgezeichnet worden.

Entsprechend hat er „Mutterzunge“ als lange, multidisziplinäre Serie unterschiedlichster Formate angelegt: Schon vergangenen Winter leitete er einen Workshop in Wedding, wo die kurdischen Künstler Cengiz Tekin und Erkan Özgen ihre Videoarbeiten mit Interessierten diskutierten.

Anfang Dezember vergangenen Jahres hatten die Künstler Savaş Boyraz und Rojda TuğrulGäste, darunter auch Emine Özdamar, ins Café Warschau auf der Berliner Sonnenallee zu einem Marathon-Workshop, einer eintägigen Ausstellung und einem Performance-Event eingeladen. Bei all diesen Gesprächen ging es um Begriffe wie Autonomie, Anonymität und Authentizität.

Großer Höhepunkt war dann aber der „Mutterzunge“-Abend vergangenen Samstag im Kino Babylon. Als die heute 71-jährige Özdamar zur Eröffnung aus ihrem Erstlingsroman von 1991 las, hatte das etwas vom Genius loci. Hatte sie doch 1976 nur einen Steinwurf entfernt als junge Regieassistentin gearbeitet: an der Berliner Volksbühne, damals noch in der DDR gelegen, geleitet vom legendären Benno Besson.

Dass es sich um ein etwas anderes Art-Event handelte, demonstrierte die „performative Intervention“ zum Auftakt. Vor dem Kino entrollten zwei Darsteller ein Transparent, auf dem das japanische Schriftzeichen für „Kommunismus“ und „zusammen“ zu sehen war. Dass es der Veranstaltungsreihe um den Zusammenhang von Wort und Bild ging, hatte tags zuvor die Ausstellungseröffnung ­„Seeing and Hearing“ im Kunstraum Apartment Project in Neukölln gezeigt. Cengiz Tekins neues Video „Silence“ etwa thematisiert die Normalisierung von Gewalt­erfahrungen heute.

Über den Bildschirm flimmern die Beschreibungen von Waffensystemen wie dem Leopard, der Uzi oder der Clusterbombe, gefolgt von ihrem charakteristischen Geräusch

In Schriftform flimmern über den Bildschirm die Beschreibungen von Waffensystemen wie dem Leopard, der Uzi oder der Clusterbombe, gefolgt von ihrem charakteristischen Geräusch. In Kurdistan können die Menschen die todbringenden Waffen an ihrem Ton unterscheiden.

Und die Istanbuler Künstlerin Ceren Oykut erwies Özdamar auf ihre Weise Referenz. Sie hat die Tagebucheintragungen aus der Zeit, als sie in Berlin Deutschkurse nahm, zu Wandzeichnungen verarbeitet.

„Zirkulierende Gespräche, Recherche, Feldforschung, methodisches Denken“, so beschreibt Yıldız „Mutterzunge“: kein singuläres Event, sondern ein unendliches Gespräch über künstlerische Arbeitsweisen und Produktionsbedingungen in Krisenzeiten.

Damit ist ihm erstmals gelungen, die – nicht zuletzt wegen der politischen Entwicklung in der Türkei – vielen versprengten Fäden von Künstler*innen zwischen beiden Ländern in einem gemeinsamen Auftritt zu bündeln. „Mutterzunge“ mag ihre Arbeit weiter untersuchen. Dass sie die Kunstszene in Deutschland mit einer ganz eigenen Sprache bereichert haben, steht schon jetzt fest.

Ausstellung „Seeing and Hearing“ im Apartment Project, Hertzbergstraße 13, noch bis zum 5. 5. 2018.

Von April bis Oktober weitere Soloprojekte im Babylon. 14. 4. 2018, 19 Uhr „Ode To“. Performance von Jeremiah Day & Discoteca Flaming Star, Park am Nordbahnhof.

Regelmäßige Updates auf: www.mutterzunge.org