In Erinnerung an Michael Rutschky: Hilfe gegen die Irren

Nachruf auf einen Freund und anregenden Autor, Kritiker der Kritiker, der die Wirklichkeit mit Wohlgefallen betrachtete.

ein Mann mit Brille guckt in die Kamera

Michael Rutschky, der das Lesen liebte, vor einer Bücherwand Foto: Christian Schulz

Für Fernreisen, als Sehnsuchtsgeschichten, hatte er keinen Sinn. Ich glaube, er pflegte sich auf seinen best buddy zu berufen und sagte: „Scheel findet ja, Sehenswürdigkeit als solche kann man sich in Bildbänden viel schöner angucken.“ Viel mehr liebte er das Nahe und damit das auch Ferne, Spaziergänge durch Berlin.

Treffpunkt S Pankow, dann runter die Magistrale gen Alexanderplatz, dort in ein Restaurant unprätentiöser Art. Während der Stunden des Gehens bemerkte er dieses & das, ein Leser metropoler Zeichen. Und im Lokal erwähnte er, als ich ein Stück gebratenes Fleisch wählte: „Mein Vater sagte ‚Stiek‘“, also nicht „Stäik“, wie der kosmopolitisch Versierte das natürlich auszusprechen hat und der frische Nachkriegsdeutsche das noch nicht besser wusste, „aber das mit Gusto“. Und ließ noch fallen, dass Sterne-Restaurants eigentlich nur verkappte Schmuckläden wären: „So schön teuer alles, so isst man Juwelen.“

Rutschky war ein famoser Freund – und ein Begleiter selbst bei innerster Not. Gab en passant, ohne Gewese, eine Telefonnummer weiter auf die Frage, ob er eine psychoanalytische Adresse wüsste – um darüber dann nie wieder ein Wort der (falschen) Neugier zu verlieren. Lobte alles Uneitle und verspottete mal milde, mal ätzend alles, was gefallsüchtig, blöde, dümmlich oder einfach nur bescheuert war.

Horst Lichter etwa, eine dieser grundsympathischen TV-Gestalten, wobei man einwenden durfte, dass es noch viel Schlimmeres gebe, denn der Lichter sei ein viel zu mickeriges Licht, als dass er Verdammung verdiente. Etwa die Riege der 3sat-Kulturzeit-Moderator*innen, die in so gut wie allem „kulturkritisch“ raunten, immer mit gebremster Unheiterkeit: „Kritik ist ja der Grundmodus allen öffentlichen Redens, das ist Pathos mit Anspruch, und das nicht mal mit Charme.“

Nein, die Welt steht nicht am Abgrund

Solche Rutschky-Sätze fielen oft. Therapeutisches Futter gegen die Irren der Zeit. Er war immer ein Kulturoptimist, er hätte niemals gegen alle Vernunft etwas behauptet, was einfach nur Geplapper gewesen wäre. Nein, die Welt steht nicht am Abgrund. Sie ist besser geworden. Sie wird jeden Tag besser. Diagnosen, dass es alles „zunehmend“ „immer schlimmer“ würde, kommentierte er mit einem höhnischen Kichern: „Das sind Erzählschemata, um sich den Blick auf die Welt einfach zu machen.“ Dass alles „zunehmend“ in die Krise gerate, dies zu sagen falle auf die Krisendiagnostiker selbst zurück: Sie fürchteten („ach, würden sie doch mal über sich reden, nicht über andere mit ihren ­sogenannten Krisen“) aus Wohlgefallen am zu Kritisierenden.

Zur sogenannten Flüchtlingskrise sagte er nur, als wir gerade die Hermannstraße in Neukölln heruntergingen, überall nichts als multikulturelles Gewusel: „Ich befürchte gar nichts. Weil es alles gut wird. Heute weiß doch keiner mehr, wie entsetzlich fies und gemein die Flüchtlinge aus Ostpreußen in Westdeutschland behandelt wurden. Das braucht Zeit, aber es wird ein deutsches Erfolgsmodell – Integration durch und durch.“ Die Wirklichkeit mit Wohlgefallen betrachtet – das wird schon klappen.

Er lobte alles Uneitle und verspottete mal milde, mal ätzend alles, was gefallsüchtig, blöde, oder dümmlich war

Von ihm lernte man, Amerika zu lieben und das Amerikanische in sich gleich mit. Erwähnte man, dass die Bundesrepublik dankbar sein müsse für die Kolonialisierung durch die USA seit dem Angriff in der Normandie 1944, lachte er auf seine manchmal scheue Art und sagte: Ja, das werden viele Deutsche den Amerikanern nie verzeihen. Gern stritten wir, ob Thomas Mann, dessen Romane er liebte, nicht ein verkappter Homo gewesen sei … Nein, schroffer Widerspruch gegen alle Offenkundigkeit, denn sei nicht jeder Mann mal in einen anderen Mann verliebt?

Mit das Letzte, was er in diesen Tagen sagte, war etwas zum Aufsteigertum. Dieses sei weniger, fand er, ein Phänomen von Emporkommenswilligen, sondern allen Aufsteigern sei gemein, dass sie aus der Provinz herauswollten, aus der Enge und aus viel zu engen Nachbarschaften. Und apropos, die Ehe – er wird auch über seine Jahrzehnte mit seiner geliebten Frau Katharina gesprochen haben, aber generell: Ach, man könne sich mal ein Vierteljahr hassen, sich aus dem Weg gehen, aber am Ende liebe man den anderen doch. Trennungen – „wissen Sie, ich bin der Typ ‚husband‘“ – kamen nicht in Frage, er war treu, und extra immer dann, wenn es zählte.

Keine Ahnung, wie es ohne ihn weitergehen soll – die Wortkombination „keine Ahnung“ liebte er, wenn er sie bei Jugendlichen hörte, „ihnen steht der Satz schön, mit ihm haben sie nämlich völlig recht“. Er fehlt ja jetzt schon, es ist wahnsinnig traurig. Nur dies: dankbar, ihn als Freund gewusst zu haben.

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