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Oh Berlin!

Bei den Aufführungen zum 75. Geburtstag der Community-Dance-Koryphäe Royston Maldoom geht es im Radialsystem V auch dank Sasha Waltz feierlich zu. Doch das eigentliche Fest steht noch aus

Von Astrid Kaminski

„Ich sage nicht, dass sie arm sind, aber sie sind mit dem Bus gekommen. 9 Euros.“ Royston Maldoom raucht eine Zigarette in einem kleinen Männerkreis. Es sind die Maldooms, seine Halbgeschwister und deren Nachkommen, die in der Nähe von London wohnen und zum 75. Geburtstag des Choreografen und Tanzpädagogen nach Berlin gekommen sind.

Mit seinen Projekten mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle hat Maldoom den Blick auf die Welt verändert, hat Kinder aus damals noch so genannten Problemschulen auf die große Bühne und mit renommierten Musiker*innen zusammengebracht. Es war kein Chaos. Es war Choreografie. 2004 entstand der mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnete Dokumentarfilm „Rhythm Is It!“. Seitdem konnte sich Maldoom vor an ihn herangetragenen Education- und Community-Dance-Projekten aus der ganzen Welt kaum retten.

Dabei hat er selbst klein angefangen. Die Angst Briefumschläge mit Rechnungen aufzumachen, verlor er, so schreibt er in seinem biografischen Arbeitsbuch „Tanz um dein Leben“, erst in einem Alter, in dem andere in Rente gehen. Und so unprätentiös wie der Wahlberliner mit seiner Herkunft kokettiert und sein kleiner Familienclan um ihn herumsteht, scheint er geblieben zu sein.

Aus Anlass seines 75. Geburtstags, den er gestern am Sonntag feiern konnte, präsentierte die ungeförderte Tanzmoto Dance Company aus Essen am Berliner Radialsystem V unter dem Titel „Crossing the Lines“ einen Querschnitt seiner Stücke aus den letzten 40 Jahren für professionelle Tänzer*innen. Maldoom strahlt. „War es nicht schön?“, fragt er. Ja, das war es. Trotzdem hätte es auch ganz anders sein können.

Oh Berlin! Maldooms 75. Geburtstag! Hätte da nicht das ganze Feld der Berliner Community-Dance- und Education-Projekte zu Ehren dieses Initiators mal zusammengebracht werden können? Hätte das nicht ein tolles Fest der Sichtbarkeit werden können? Zuständig fühlte sich niemand, der*die so etwas hätte stemmen können.

So mussten Sasha Waltz und Jochen Sandig einspringen und die Feier am Radialsystem (wo die Kompanie Sasha Waltz & Guests zu Hause ist) ermöglichen. Sasha Waltz hat sich ohnehin in den letzten Jahren ohne viel Aufhebens für eine diversere Kulturlandschaft eingesetzt – sei es durch die Reihe „Dialogic Movement“ oder indem sie syrischen Journalist*innen und Künstler*innen Unterstützung und eine Plattform bot.

Tanzmoto aus Essen ist für Maldoom seit Jahren ein wichtiger Partner in NRW. Für seine Projekte mit unterschiedlichen benachteiligten Bevölkerungsgruppen – älteren Menschen genauso wie solchen mit Flucht- und Migrationserfahrungen oder mit Barrieren beim Zugang zu Bildung und Teilhabe – arbeitet er immer mit Multiplikatoren vor Ort zusammen. Mit seiner Arbeit will er nachhaltige künstlerische Infrastrukturen in allen Bereichen der Gesellschaft schaffen.

Maldoom will Kunst machen, keine Sozialarbeit – das gelingt durch Sensibilität für die soziale Situation

Dass sich diese Investitionen auch in seiner künstlerischen Arbeit auszeichnen, war am Wochenende einmal mehr am Radialsystem zu bestaunen. Auf einer Leinwand und zwei großen Bildschirmen laufen Auszüge seiner Werke aus dem Ruhrgebiet, den palästinensischen Gebieten, Nordirland oder Äthiopien.

Männer mit gegerbten Gesichtern und faltigen Händen tasten sich an Mauern entlang, als würden sie nicht nur die Zeit, in er sie leben, sondern auch sich selbst entziffern wollen; Straßenkinder sind im selbstvergessenen Taumel des ästhetischen Empfindens zu erleben; Männer und Frauen aus den palästinensischen Gebieten erfahren die Kraft gemeinsamer Gestaltung ohne Gendertrennung auf der Bühne. Maldoom will Kunst machen, keine Sozialarbeit, und genau das gelingt durch die Sensibilität für die soziale Situation. Gegen die Dynamik und Hingabe dieser Choreografien, die Maldooms Arbeit am Fokus und am Verschmelzen von Gefühl und Bewegung unterstreichen, wirken die fünf professionell getanzten „Crossing the Lines“-Stücke mit so einigen Modern-Dance-Floskeln eher als Hommage an Vergangenes.

Dass aber in verschiedenen Tanzstilen sehr unterschiedliche Geschichten über innere und gesellschaftliche Zustände erzählt werden können, dass Symbole als Scharniere für abstrakteres Erleben dienen können, entfaltet sich an diesem Abend sehr anschaulich. Das Publikum jubiliert in großer Solidarität und Dankbarkeit.

Für Maldoom selbst war es ein Genuss, einmal wieder mit einer Gruppe zu arbeiten, die nicht erst einmal fragt: „Wieso müssen wir diese Scheiße mit diesem alten Mann machen?“. Den Grund ist der immer noch sehr jung wirkende Maldoom nie schuldig geblieben. Jetzt aber will er auch lernen, „Neinsagen zu können“. Er wird sich nicht dran halten, aber verdient hat er es.

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