Die endlose Stille

Die Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Saloniki während der deutschen Okkupation war Thema in einer Buchvorstellung an der FU Berlin

Von Annika Glunz

„548 Tage können lang werden, wenn man sie unter der permanenten Angst verbringen muss, dass die eigene Existenz entdeckt wird.“ Diese Worte sprach der griechische Botschafter S. E. Theodoros Daskarolis zu Beginn der Buchvorstellung von „548 Tage unter falschem Namen. Vom Untergang der jüdischen Gemeinde Saloniki“ an der FU Berlin.

Die Autorin des Zeitzeugenberichts, Rosina Asser Pardo, wurde 1933 in Saloniki geboren, wo es die größte jüdische Gemeinde Griechenlands gab: „Bis weit nach 1918 waren Juden größte Bevölkerungsgruppe in der Stadt. 1941 machte die jüdische Gemeinde noch knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung Salonikis aus“, erklärt Ulrich Baumann, stellvertretender Direktor der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas. „Thessaloniki war ursprünglich osmanisch. Sultane luden vertriebene Juden ein, was zur einmaligen kulturellen Vielfalt des griechischen Judentums führte“, fügt er hinzu. Asser Pardo war noch ein Kind, als Deutschland 1941 Griechenland okkupierte und begann, dort lebende Juden systematisch in den Tod zu treiben. Bei der Lesung am Dienstag erfuhr das Publikum, wie Juden zunächst öffentlich gedemütigt wurden und dann Zwangsarbeit leisten mussten. Zur Willkürherrschaft gehörten wahllose Verhaftungen und dass selbst Verstorbene noch entehrt wurden: Der jüdische Friedhof Salonikis wurde enteignet, die Toten wurden exhumiert.

Vor Beginn der deutschen Besatzung hatten sich Spione in die jüdische Gemeinde gemischt. Von all dem bekam das Mädchen nichts mit: „Zu dieser Zeit spielte ich leidenschaftlich gern ein Büchsenwurfspiel mit Kindern aus der Nachbarschaft“, schreibt Asser Pardo. Ein Ereignis hat sich ihr besonders eingeprägt: „Eines Tages sagte uns der Oberrabbiner, dass es keine israelitischen Geschäfte mehr geben wird. Das war die größtmögliche Katastrophe. Mein armer Papa hatte den Laden selbst aufgebaut.“

Ein befreundeter Arzt nimmt sie im April 1943 unter verdeckten Namen bei sich auf und bewahrt sie so vor der Deportation. Nicht ahnend, dass die Zeit im Versteck anderthalb Jahre andauern wird – 548 Tage. Als „unerbittliche, grenzenlose Stille“ beschreibt Asser Pardo diese Zeit. „Sehnsucht nach dem Spiel“ habe ihr über dieses Bangen hinweggeholfen.

Nach der Befreiung lebte die Autorin „ganz normal“: Sie ging wieder zur Schule, empfand Leben und Lernen als „Fest“: „Jeden Abend gab es bei uns ein Familienkonzert.“ Später studierte sie Jura in Paris und beschäftigte sich mit Frauenthemen und dem Holocaust. Am Ende beschreibt Asser Pardo, wie sie erst spät in der Lage gewesen sei, zu begreifen, was die Geschichte aus ihr gemacht hatte. Dankbar resümiert sie: „Das Wunder der Geburt ist für mich gleichzusetzen mit dem Wunder unserer Rettung vor den Nazis. So sind drei weitere Generationen gerettet worden – bis heute habe ich neun Enkelkinder.“

Offen bleibt am Ende die Frage, warum der ermordeten Juden in Griechenland erst so spät gedacht wird und das Land trotz des großen Ausmaßes der Vernichtung weit weniger mit dem Holocaust in Verbindung gebracht wird als andere europäische Länder. Eine Antwort wurde während der Veranstaltung nicht gegeben. Ansätze finden sich auf der Homepage des FU-Projekts „Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland“. Da steht: „Ein öffentlicher Diskurs über dieses Thema hat in Griechenland bis vor Kurzem kaum stattgefunden. Noch in den 80er Jahren war die Geschichte der Juden und ihres Leids nicht Teil des nationalen Narrativs.“