: Einstürzende Altbauten
Falling Walls in Baden-Württemberg: in den nächsten Tagen könnte der Südweststaat Angela Merkel zwei weitere Niederlagen bescheren. Am Sonntag bei der OB-Wahl in Stuttgart. Und am Montag, wenn Bahnvorstand Volker Kefer weitere Steuermillionen für Stuttgart 21 fordern wird. Doch dann müsste Noch-OB Wolfgang Schuster (CDU) einen Bürgerentscheid einleiten
von Hermann G. Abmayr
Ein Hammer. Ihn überreicht Sebastian Turner an Angela Merkel (CDU), als sie ihre Rede bei der Wissenschaftskonferenz „Falling Walls“ in Berlin beendet hat. Das war am 9. November 2011, und der ortsansässige Multimillionär war der Initiator des Treffens. Der Hammer sollte der Kanzlerin helfen, die Mauern einzureißen, die im Titel der Veranstaltung aufschienen, die wiederum von Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) gesponsert wurde. „Welche Mauern fallen als nächste – und wie werden sie unser Leben verändern?“, lautete die Frage.
In diesen grauen Novembertagen 2011 haben die Regierungschefin, ihre Vertraute Schavan und Sebastian Turner auch über eine andere Mauer gesprochen. Über die schwarze im Südwesten, die sich um eines der reichsten Bundesländer und die innovativste Region des Landes gezogen und viele Jahrzehnte lang vor Störmanövern geschützt hat. Doch undankbare Bürger haben sie mittlerweile mit ständigen Montagsdemos und anderem Protestbekundungen brüchig gemacht. Mit der Oberbürgermeister-Wahl, so die Analyse von Angela Merkel, könnte im Oktober 2012 ein weiteres Stück des einst sicher geglaubten Schutzwalls einstürzen.
Als Retter kam da nur einer von außen in Frage: Sebastian Turner. Man kennt sich schließlich schon lange. Turners Agentur Scholz & Friends hatte jahrelang für die Regierung gearbeitet, vor allem für Merkels Presseamt und für Schavans Ministerium. Der Plan: Stefan Kaufmann, der Stuttgarter Kreischef, sollte der CDU im Januar Turner vorschlagen, wenn Wolfgang Schuster seinen Rückzug offiziell kundtut. Und so kam es, wenngleich ein Teil des Stuttgarter Partei-Establishments darin einen Putsch sah, den es nicht kampflos hinnehmen wollte.
Athen und Stuttgart – beide Male geht es um das Gleiche
Doch dann hat Angies Retter die schwarze Mauer mit seinem schlechten Abschneiden im ersten Wahlgang noch wackliger gemacht. Seine Widersacher in der CDU munkelten schon, die Kanzlerin würde ihren geplanten Stuttgart-Auftritt auf dem Marktplatz absagen. Vorgeschobene Gründe hätte es dafür genug gegeben. Aber Merkel blieb eisern. Nach dem turbulenten Besuch in Athen suchte sie das Bad in der Stuttgarter Protestmenge. Und wurde – wie schon beim Landtagswahlkampf 2011, als sie Stefan Mappus empfohlen hatte – nicht enttäuscht.
Athen und Stuttgart. Für Angela Merkel geht es in beiden Fällen um das Gleiche: um die Macht und um ein Exempel. Das hat sie bereits vor zwei Jahren bei einer Tagung des mächtigen Bundesverbands der Industrie (BDI) verkündet. Wenn Stuttgart 21 nicht realisiert werde, „dann würde es dazu kommen, dass wir als nicht mehr verlässlich gelten“, hatte die Kanzlerin Ende 2010 vor den wegen der Proteste in Stuttgart beunruhigten Industriebossen gesagt. Immerhin hatten zwei Drittel der Stuttgarter zu jenem Zeitpunkt S 21 abgelehnt.
Manch einer der Demonstranten hatte damals noch die Hoffnung, Angie könne helfen, den Stuttgarter OB Schuster zur Raison zu bringen. Mancher hat ihr und anderen CDU-Größen Bittbriefe, später auch Protestresolutionen geschrieben. „Schuster weg“ war 2010 zunächst die Hauptparole. Erst später schossen sich die zornigen Bürger auf den damaligen Ministerpräsidenten Mappus ein. Nur wenige erkannten, dass die Entscheidungen vor allem im Kanzleramt und im Berliner Verkehrsministerium fallen, denn die Deutsche Bahn AG ist zu hundert Prozent Eigentum des Staates.
Wenn sie als Bundeskanzlerin einräumen müsse, so Merkels Reaktion auf die Demowelle 2010, dass Deutschland aufgrund von Bürgerunmut seine Zusagen nicht mehr einhalten könne, wäre das ein Fiasko. Denn dann würde morgen ihr griechischer Kollege sagen: „Weil bei uns so viel protestiert wurde, kann ich die Stabilitätszusagen nicht mehr einhalten.“ Es ging also ums Prinzip, obwohl es damals noch keine Troika gab, die den Griechen die Politik diktierte. So war auch Merkels Spruch zu verstehen, bei der Durchsetzung von Stuttgart 21 ginge es „um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands“.
Die Ankündigung der Kanzlerin beim BDI war ganz nach dem Geschmack von Dieter Hundt. Auch der langjährige Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) hatte nicht nur das größte Immobilien- und Verkehrsprojekt Europas vor Augen, steuerfinanziertes Milliardenprogramm für die Wirtschaft. Nein, Hundt erkannte schon früh die politische Dimension des Konflikts. „Wenn Stuttgart 21 gekippt wird“, sagte er, „dann hat das Auswirkungen auf unsere nationale und internationale Reputation.“ Das Projekt stehe dafür, „ob wir uns in Deutschland dem Druck eines Teils der Öffentlichkeit beugen“.
Merkel hatte die Landtagswahl 2011 zu einer Volksabstimmung über S 21 erklärt. Da sie (und Annette Schavan) dem vormaligen Ministerpräsidenten Günther Oettinger nicht zutraute, das „Stammland der CDU“ zu verteidigen, hatte ihn Merkel Ende 2009 zur Europäischen Kommission nach Brüssel weggelobt. Trotz Wahlunterstützung gelang es Merkel/Schavan aber nicht, den „Rambo“ Mappus durchzuboxen.
Am Sonntag bahnt sich in Stuttgart eine ähnliche Niederlage für Merkel an. Diesmal könnte es ihren Zögling Turner treffen. Die Kanzlerin wird das Desaster überleben, ob das für ihre Vertraute Schavan auch gilt, ist noch offen. Die Forschungsministerin muss sich gegen den Vorwurf wehren, bei ihrer Doktorarbeit bewusst getäuscht zu haben, was ihre Position im Südwesten weiter schwächen wird. Schavan war Merkels wichtigste Strippenzieherin in Baden-Württemberg.
Aufgeben wird die eiserne Kanzlerin deshalb noch lange nicht. In dieser Frage ist sie nicht biegsam wie in anderen. Nicht einmal Heiner Geißlers „goldene Brücke“ vom vergangenen Sommer – ein bisschen Kopf- und ein bisschen Tiefbahnhof – wollte sie betreten. Sie will in Stuttgart ein Exempel statuieren. Denn wenn sich die Bürger mit ihren Protesten durchsetzten, dann kämen womöglich die in Frankfurt, Hamburg oder Berlin, Paris und Athen auf die gleiche Idee. Eine „Stuttgarter Republik“ dürfe es jedenfalls in Deutschland nicht geben. So erklärte die Kanzlerin auch bei ihrem Auftritt in der vergangenen Woche auf dem Marktplatz der Landeshauptstadt: „Wie man die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigt, wird auch mit dem Bahnhof entschieden. Das ist die Infrastruktur von morgen, und das geht nur mit Sebastian Turner.“
Privatier Turner könnte wieder zurück nach Berlin fliegen
Nach dieser Logik müsste Stuttgart 21 am Montag nach der Wahl tot sein. Privatier Turner könnte zurück nach Berlin fliegen und sich erneut um die Falling-Walls-Konferenz kümmern, die wieder am Jahrestag des Falls der Berliner Mauer stattfinden wird. Reden soll dort auch Annette Schavan, angekündigt für 12.50 Uhr. Möglicherweise wird die Honorarprofessorin für katholische Theologie an der Freien Universität Berlin dann bereits ihr eigenes Gewissen prüfen.
Doch zurück nach Stuttgart und zurück zum Montag nach der OB-Wahl: Noch-OB Schuster und Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) werden sich an diesem Tag im S-21-Lenkungskreis treffen. Bahnvorstand Volker Kefer wird ihnen vorrechnen, dass Mehrkosten von mehreren hundert Millionen Euro entstanden sind. Für DB-Chef Rüdiger Grube kein Problem. Vorgänger Hartmut Mehdorn und Kefer hatten Stadt und Land schon zu Oettingers Zeiten bluten lassen.
Wieder geht es ums Geld der Steuerzahler in Stuttgart und Baden-Württemberg. Sie sollen die Kosten für einen funktionierenden Brandschutz übernehmen, zu dem die Bahn trotz jahrelanger Planung nicht in der Lage ist. Sie sollen die rund 80 Millionen Euro berappen, die „S 21 plus“ mindestens erfordern wird. Andere Schätzungen liegen weit höher. Das sind die Verbesserungen, die Heiner Geißler nach dem Faktencheck Ende 2010 verkündet hatte. Weitere 150 Millionen Euro dürfte eine verbesserte Planung der Streckenführung und des neuen Flughafenbahnhofs auf den Fildern kosten – womit die Obergrenze von 4,526 Milliarden Euro überschritten wäre. Doch wer soll jetzt bezahlen?
Schuster ist an den Bürgerentscheid gebunden
Dann müssen in Stuttgart die Bürger mitspielen. Genau das, was Angela Merkel immer verhindern wollte. Denn bei der ersten Sitzung des neu gewählten Gemeinderats am 29. Juli 2009 hatte die SPD beantragt, eine Bürgerbeteiligung im Falle von Mehrkosten sicherzustellen. Am Ende der hitzigen Debatte stimmte eine Mehrheit von Grünen, CDU und SPD mit der Stimme von Oberbürgermeister Schuster für den Antrag: Der OB wird beauftragt, im „Falle von Mehrkosten für die Stadt, die über die Vertragslage hinaus gehen, einen Bürgerentscheid über die weitere Mitfinanzierung des Projekts durchzuführen“.
Sebastian Turner könnte seine Falling-Walls-Konferenz dann nach Stuttgart holen, um den geladenen Wissenschaftlern den Zusammenbruch einer schwarzen Mauer vorzuführen. Denn schon jetzt ist absehbar, dass die Stuttgarter keinen Cent mehr für das Tunnel-Bahnprojekt ausgeben werden. Daran hat sich bis heute nichts geändert. „Die Beschlusslage ist bindend, da gibt es keinerlei Spielraum“, versicherte OB Schuster Mitte 2011 noch einmal. Schuster hatte damit auf die damalige Forderung Grubes reagiert, die Stadt müsse 33 Millionen Euro für einen geplanten vierwöchigen Baustopp bezahlen.
So könnten der kommende Sonntag und Montag Stuttgart wieder einmal in die „Tagesthemen“ und die überregionalen Zeitungen bringen. Und Ministerpräsident Winfried Kretschmann dürfte bei der Landespressekonferenz am darauffolgenden Dienstag nicht nur zu seiner Türkeireise befragt werden, sondern auch zu den zusätzlichen Kosten für S 21 und zu seinem Verhältnis zum neu gewählten Stuttgarter OB, der sein Amt am 7. Januar 2013 antreten wird.