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Szenarien der Zukunft zwischen Onanie und Politik

Mächtig was los: Eindrücke von der 18. lit.Cologne, dem größten europäischen Festival für Literatur, auf dem Zuschauer bereitwillig den Stars und Talenten zuhören

Kein Schimmel: Robert Habeck Foto: dpa

Von Paul Wrusch

Robert Habeck genießt und schweigt. „Ein Mann von Ihrem hohen intellektuellen Niveau“, „Kein anderer Spitzenpolitiker hat eine derart ehrliche und phrasenfreie Sprache“… Die Bewunderung seiner Gesprächspartner – Spiegel-Literaturkritiker Volker Weidermann und Moderator Joachim Scholl – könnte ehrfurchtsvoller kaum sein. „Für mich hat sich der Abend schon gelohnt“, witzelt der Grünen-Politiker – und schweigt an den richtigen Stellen, etwa bei der Kanzlerfrage. Das Publikum folgt ihm andächtig am Dienstagabend im Kölner Comedia Theater. Amüsant, eloquent, lässig spricht er von Beginn an. Man sucht den schimmligen Flecken in der Ecke und findet ihn nicht. Fast zu perfekt, dieser Habeck.

Mehr als 200 Veranstaltungen in zwölf Tagen bietet Europas größtes Literaturfestival. Über 100.000 Besucher erwartet die 18. lit.Cologne noch bis Samstag zu Themenabenden, klassischen Autorenlesungen und Kinderprogramm. Literatur wird hier als Event verkauft. Prominente Schauspieler als Vorlesende sind Zugpferde, fast jede Veranstaltung ist ausverkauft. Ein Kulturevent dieser Größe, das ohne öffentliche Förderung auskommt, ist selten.

Freistaat Bayern

„Dichter an die Macht“ heißt jedenfalls der politisch-literarische Abend mit Habeck und Weidermann. Weidermann hat vor Kurzem das Buch „Träumer“ veröffentlicht, es handelt von der Münchner Räterepu­blik, die von Herbst 1918 bis zum Frühjahr 1919 dauerte, als Intellektuelle, Dichter, Literaten die Macht in Bayern ergriffen. Erstmals wurden nicht nur Politiker zu Ministern bestimmt – was Habeck an die Zeit erinnert, als er vom erfolgreichen Schriftsteller zum Vollzeitpolitiker bei den Grünen wurde. In „Wer wagt, beginnt“ beschrieb er vor zwei Jahren jene Anfänge, nun liest er daraus: Bei der ersten Sitzung mit dem Kreisverband 2001 direkt zum Vorsitzenden gewählt, nur wenige Jahre später aus Not heraus zum Landeschef, dann Minister. „Und auch jetzt sitze ich manchmal mit meiner Co-Chefin Annalena zusammen, und wir fragen uns: Was machen wir jetzt eigentlich?“ Diese Momente großer Freiheit seien schon „geil“, sagt er. Verbindet Schriftsteller und Politiker überhaupt etwas? Für Weidermann ist klar: Politik muss als Erzählung funktionieren. Habeck dagegen sieht wenig Gemeinsamkeiten. Schreiben sei subjektiv, Politik objektiv. Als Politiker sagen, was man denkt? Fast unmöglich. Denn die Öffentlichkeit verzeihe keine Fehler.

Literatur wird als Event verkauft. Prominente Schauspieler sind Zugpferde, fast alles ist ausverkauft

Am Vorabend geht es drei Kilometer entfernt ebenfalls um Politik, denn „die Pussy ist hochpolitisch“, wie die norwegische Ärztin und Autorin Ellen Stokken Dahl sagt. Zeitgleich entwirft Grünen-Veteran Joschka Fischer im WDR-Funkhaus übrigens düstere Zukunftsszenarien, aber man kann ja nicht überall sein. Also lieber als einer von vielleicht 30 Männern inmitten von rund 400 meist jungen Frauen etwas über weibliche Sexualität lernen. „Viva La Vagina“ heißt das Buch von Dahl und Nina Brochmann. „Seit Jahrhunderten gibt es die immer gleichen Fragen von Frauen“, sagt Brochmann. Ihre Mission deshalb: Aufklärung. Ihr Mittel: unverkrampfter Witz. Ihr Ziel: eine bessere weibliche Sexualität. Eine amüsante Aufklärungsstunde mit Animationen, Gifs und einem rosa Plüschjungfernhäutchen. Und der finalen Aufforderung: „Masturbiert jeden Tag!“

In der Garderobenschlange steht ein Ehepaar im Rentenalter. Er telefoniert. „Sag ihr, wie die Veranstaltung hieß“, fordert die Frau energisch. „Ja, also wir waren in „Viva La Vagina“, erklärt der Mann. „Haben uns aber etwas verirrt. Wir dachten, das sei so ein neuer Roman aus Norwegen.“ Verbittert klingt er nicht. Das Vertrauen des Publikums in die lit-Macher ist groß. Auch unbekannten Autoren füllen die Säle. Bekannte natürlich schneller: Rund 600 Menschen wollen Bernhard Schlink am Sonntagabend sehen und hören. Viele Frauen Ü50, die in nervöser Vorfreude ihr Sektglas halten. Schlink liest aus seinem neuen Roman, „Olga“. Warme Stimme, ruhiger Ton. Immer wieder gleitet der Blick nach rechts, wo sich zwei Gebärdendolmetscherinnen mit der Simultanübersetzung abwechseln. Man fragt sich, was die Menschen zu dieser Art von klassischer Lesung zieht. Fantum mag ein Motiv sein. Einblicke ins Leben und Arbeiten des Autors ein zweites. Und Schlink erzählt gerne von sich. Davon, dass er „selten so glücklich ist, wie wenn ich schreibe“. Davon, dass er für das Buch nach Namibia reiste, letztlich aber kaum etwas davon verwendete. Davon, dass er, der gelernte Jurist, sich ständig ausprobierte: Masseur-Ausbildung, Goldschmiederei, Querflöte. Schlink liest, plaudert, liest, plaudert. Liest. Und seine Anhänger entschwinden beseelt in den frühlingshaften Abend.

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