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Fragen nach der ethischen Dimension im Klinikalltag

Im durchorganisierten, meist ökonomisch ausgerichteten Praxisalltag bleiben ethische Aspekte häufig auf der Strecke – und damit die individuellen Patientengeschichten

Wie finde ich das Passende für den Patienten in seiner jeweiligen Situation?

Von Susanne Kretschmann

In Kliniken kämpfen Mediziner oft mit einer dünnen Personaldecke und einem durchorganisierten Zeitrahmen. Wie viel Zeit bleibt da noch für ethische Fragen? Matthias Girke, Facharzt für Innere Medizin am Berliner Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe und Leiter der Medizinischen Sektion der Freien Hochschule am Goetheanum: „Dazu muss man sich erst mal klarmachen, wo eine ethische Fragestellung beginn. Also wann handelt es sich nicht mehr nur um eine medizinisch-fachliche Frage, sondern um eine ethische.“ Für den Mediziner ist beides untrennbar miteinander verbunden: „Jede medizinische Maßnahme hat auch eine ethische Dimension.“ Schwierige Behandlungsfälle werden in der Havelhöhe, einer Klinik für anthroposophische Medizin, die Girke mit aufgebaut hat, im Ethik-Komitee des Krankenhauses diskutiert, welches sich aus Ärzten, Palliativmedizinern, Pflegenden, Juristen, Sozialarbeitern und Seelsorgern zusammensetzt.

„In der Medizin brauchen wir nicht nur die wirksame Therapie, sondern auch die den Patientenpräferenzen entsprechende Behandlung. Wir fragen deshalb nicht nur: ‚Was ist wirksam?‘, sondern auch: ‚Wie finde ich das Passende für den Patienten in seiner jeweiligen Situation und vor dem Hintergrund seiner Wertevorstellungen?‘“, erklärt Girke. Wie komplex und individuell Patientengeschichten aussehen können, beschreibt Giovanni Maio, Medizinethiker und Professor an der Universität Freiburg, in seinem Buch „Mittelpunkt Mensch: Lehrbuch der Ethik in der Medizin: Mit einer Einführung in die Ethik der Pflege“ (Schattauer Verlag, 29,99 Euro). Maio kommentiert hier unter anderem einen Fall, bei dem eine Intensivtherapie ohne Lebenswillen diskutiert wird (ausführliche Kommentare im unteren Text). Die Patientengeschichte berührt unterschiedliche medizinethische Prinzipien und soll verdeutlichen, wie Prinzipienethik dazu beitragen kann, eine schwierige Entscheidungssituation so zu strukturieren, dass die Lösung des ethischen Konfliktes leichter fällt:

Ein 48-jähriger Patient mit bekannter alkoholbedingter Leberzirrhose wird vom Hausarzt mit Verdacht auf eine Magenblutung zur weiteren Abklärung in die Notaufnahme eingewiesen. In der Notaufnahme wird der Patient plötzlich zyanotisch (blau) und trübt sofort ein, sodass er notfallmäßig intubiert und beatmet werden muss. Auf der Intensivstation entwickelt er eine schwere Lungenentzündung (sogenannte Aspirationspneumonie nach der Blutung), die trotz intensiver Therapie nicht geheilt werden kann. Im weiteren Verlauf entwickelt der Patient ein akutes Nierenversagen. Von der Mutter des Patienten wird berichtet, der Patient habe in den letzten Wochen mehrfach geäußert, dass er nicht mehr leben wolle und sich zu Tode trinken werde. Auf der Intensivstation entsteht eine Diskussion darüber, ob es überhaupt gerechtfertigt sei, bei einer sehr eingeschränkten Gesamtprognose eine solch extrem teure Behandlung vorzunehmen, die der Patient angesichts seiner Suizidalität sicher nicht gewollt hätte. Daher wurde eine Ethikberatung erbeten.

Medizin und ihre Ethik sind abhängig von einem Menschenbild. „In der Medizin geht es nicht nur um ein biologisches Menschenbild, sondern um die Erfassung des Patienten in seiner somatischen Dimension, aber auch als seelisches und geistiges Wesen. Dadurch entwickelt sich eine patientenzentrierte Medizin mit Achtung der Autonomie, Würde und der Entwicklungsmöglichkeiten des Patienten“, sagt der Mediziner. Wie wichtig in diesem Zusammenhang die ethische Einstellung ist, kommt besonders in der Palliativmedizin zum Tragen. Girke: „Hier gibt es unterschiedliche ethische Orientierungen: Es gibt den Ansatz der Leidens- und Symptomkontrolle bis zur oft diskutierten Terminierung der Leidenszeit, oder den anderen, der Beschwerden des Patienten effektiv vermindert, ihn aber darüber hinaus in seinen Entwicklungsmöglichkeiten unterstützt. Oftmals beobachten wir herausragende Entwicklungen gerade in dieser Erkrankungszeit, in der eben nicht nur das biographische Lebensende bevorsteht, sondern Neues und Zukunftsweisendes geboren werden kann.“

Nach Girkes Einschätzung werden ethische Diskussionen noch viel zu selten geführt, meistens bei sehr schwierigen Fällen, die nicht selten in den Bereich der Palliativmedizin fallen. Für die Zukunft wünscht sich der Arzt, dass „ethischen Fragen mehr Raum und Zeit gegeben wird, um sinnvolle Entscheidungen für den Patienten treffen zu können“. Ein Wandel in dieser Hinsicht kann bereits während der Ausbildung beginnen. „Mit Abschaffung des Philosophicums (Wahlfach, das sich mit philosophischen Fragestellungen beschäftigt, Anm. d. Red.) ging viel verloren“, sagt Girke und plädiert für eine patientenzentrierte Ausbildung. „Angehende Mediziner sollten früher mit den Patienten in Kontakt kommen, denn den Umgang mit den Grenzsituationen des Lebens kann man nicht auswendig lernen.“ Basis einer ethischen Urteilsfindung ist aus seiner Sicht eine intensive Therapeuten-Patienten-Beziehung.

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