: Hingabe an das Unkalkulierbare
NEUSTART Am 1. November beginnt die erste Spielzeit unter der belgischen Intendantin Annemie Vanackere, der Nachfolgerin von Matthias Lilienthal, an den HAU-Theatern. Ein Besuch vor der Eröffnung
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Noch ist das WAU, das Restaurant, das zum Theater am Halleschen Ufer gehört, eine Baustelle. Aber Annemie Vanackere lässt mich schon mal durch die Tür schauen, weist enthusiastisch auf die hellen Farben hin, die in Rechtecken über die Wände ziehen, ein konstruktivistisches Design. Sie hat die Bühnenbildnerin Janina Audick beauftragt, den Foyers und Bars der Theater ein neues Gesicht zu geben, lichter, luftiger.
Die Nachfolgerin von Matthias von Lilienthal zeigt keine Furcht vor dem Schatten ihres Vorgängers, der die drei Häuser Hebbeltheater, Theater am Ufer und Theater am Halleschen Ufer zur Marke HAU gemacht hat. Sie signalisiert einen Neuanfang, aber sie steht auch für Fortsetzung vieler inhaltlicher Schienen. Schließlich hat sie nicht umsonst an der Schouwburg in Rotterdam, die sie sieben Jahre lang leitete, und auf Festivals mit vielen der Künstler zusammengearbeitet, die Lilienthal ins HAU einlud.
Zuschauerin aus Passion
Annemie Vanackere, 1966 in Belgien geboren, hat Philosophie studiert, erst in der Heimat, später in Paris, um den Philosophen Jaques Derrida zu hören. Dann aber eigentlich ihren Beruf als Theatermanagerin aus einer Leidenschaft entwickelt, dem Zuschauen. Das liebe sie bis heute, wie man da sitzt und sich selbst im Verhältnis zu den Künstlern auf der Bühne wahrnimmt, hat sie einmal in einem Gespräch mit dem Choreografen Xavier Le Roi gesagt.
Tatsächlich konnte man die schlanke Frau mit den dunklen Locken seit diesem Februar in vielen Theatern Berlins und auf Festivals als Zuschauerin sehen. Sie hat sich vertraut gemacht mit der Stadt. Einige Theater kennt sie zwar schon länger, schließlich war sie 2004 die erste Intendantin, die Leute wie René Pollesch oder Frank Castorf in die Niederlande einlud.
Man sieht und hört ihr gerne zu beim Reden; die lebhaften Gesten, der kleine niederländische Akzent. Sie ist ein Teamworker, immer interessiert am Gesprächspartner, auch noch mitten im Stress.
Im September lud sie zum ersten Pressegespräch ein. Das „noch nicht ganz verstehen“, wie Berlin tickt, beschrieb sie auch als ihre Chance: einen Blick auf die Stadt zu haben, der nicht schon immer weiß und für selbstverständlich nimmt, wie das hier so läuft. Nicht alles sofort verstehen zu können, das Genau-Wissen und die vermeintliche Ordnung durcheinanderbringen zu lassen, das ist auch etwas, das sie den Künstlern und ihren Produktionen unbedingt zugestehen möchte.
Aber eins scheint ihr schon symptomatisch für Berlin – der Druck auf die Kulturinstitutionen, ständig den Nachweis zu erbringen, dass sie in dem, „was sie inhaltlich tun, gesellschaftlich relevant und daher förderungswürdig sind“. Dagegen setzt Annemie Vanackere die Hingabe auch an etwas, das noch nicht kalkulierbar ist, das noch keinem angesagten Diskurs zuzuordnen ist, das vielleicht „nicht nützlich, vielleicht sogar eine höhere Form der Zeitverschwendung“ ist.
Vielleicht entsteht dabei für die Zuschauer so etwas, wie sich selbst mit einem neuem Blick betrachten zu können – oder zumindest einen anderen Blick auf sich zu wissen. Das jedenfalls empfindet man beim Blick auf die Motive der neuen HAU-Werbeplakate. Panther, Eule und Affe sehen uns an. In ihrem Blick liegt etwas Skeptisches.
Vorbereitende Maßnahme
Doch zurück zum HAU, zur Vorbereitung der Spielzeiteröffnung. Der Kartenverkauf hat begonnen. Annemie Vanackere trifft sechs Mitarbeiter von den Kassen, das Leporello des Novemberprogramms wird besprochen. Welche Gruppen die Mitarbeiter schon kennen, ob sie sich unter den Ankündigungen was vorstellen können, will Vanackere wissen. Das ist für die Intendantin ein Test – wie verständlich treten wir auf. Aber es ist vor allem auch ein Austausch: Wer von den Kassenkräften schon Produktionen der Künstler gesehen hat, den lässt sie erzählen. Von denen, die noch niemand kennt, wie das holländische Kollektiv Schwalbe, skizziert sie die Besonderheiten der Gruppe, wie sie aus Situationen ihr physisches Spiel entwickeln – und ganz kurz ahmt sie das nach. Dann notiert sie sich, dass die Kassenleute zu Proben eingeladen werden. Denn je konkreter ihr Bild davon ist, was im Programm des Theaters ist, umso besser können sie die Zuschauer beraten.
Klar ist die spannende Frage: Gehen jetzt nur die Tickets zu den in Berlin schon eingeführten Künstler gut weg, wie etwa zu dem französischen Choreografen Jerome Bel, der mit „Disabled Theatre“, einem Projekt für die geistig behinderten Schauspieler des Teater Hora aus Zürich am 1. November ins Hebbeltheater kommt? Oder auch die zu „Wunderbaum“, einem holländischen Kollektiv, das eine „Vision out of nothing“ für den Neustart des HAU ins Theater am Halleschen Ufer bringt? „Das ist beides gleich wichtig“, betont Annemie Vanackere, in beiden Häusern werden Klaus Wowereit und sie kurze Ansprachen halten.
Wunderbaum zeigen gleich drei Produktionen im November, unter anderem „Geisterbahn“, nach dem Text „Der Theatermacher“ von Thomas Bernhard und musikalischen Motiven von Wagner. Mit Wunderbaum stellt Vanackere eine in Berlin noch unbekannte Gruppe vor und knüpft doch zugleich an etwas an. Denn das Kollektiv kommt aus dem Umfeld des ZT Hollandia von Johan Simons, den Matthias Lilienthal oft ans HAU eingeladen hatte. So ist es bei einigen der unbekannten Namen im Programm, sie erweitern das Feld des bisher hier Gespielten.
Neue Kooperationen
Zu den Künstlern, die Annemie Vanackere näher an das HAU binden will, gehören der Regisseur und Choreograf Laurent Chétouane, der im November seine Auseinandersetzung mit einem berühmten Stück der Tanzgeschichte, „Sacre du Printemps“, zeigen wird, und die Choreografin Meg Stuart. Die erhält im Januar im HAU 3 ein Studio, um andere Künstler einzuladen, Kooperationen auszuprobieren, manchmal mit Publikum in dieser Werkstatt. Davon erzählt Vanackere an diesem Nachmittag Xavier Le Roi, auch er ein französischer Choreograf, der lange in Berlin lebte und seine Stücke vor allem im Podewil zeigte. Mit ihm redet sie englisch, eine kurze Erholungspause von dem Gespräch auf Deutsch mit den Kassenleuten, sie switcht zwischen den Sprachen spielerisch. Sie will von Le Roi wissen, warum er jetzt eher in Paris zu sehen ist, wo seine Arbeitsweise und die Berliner Fördermethoden nicht zusammengingen und wie man zusammen eine Strategie entwickeln kann, dass seine Arbeit auch am HAU zu sehen ist. Es ist ein Findungsgespräch, vermutlich nicht das letzte.
Dann trifft sie Khaled Sleiman und Mijke Hamsen, gewissermaßen ihre Verbindungsleute zu zwei Schulen in der Kreuzberger Nachbarschaft. Im House Club besuchen Schulklassen einmal in der Woche Künstler, die eine Residenz im HAU 3 haben; vier Klassen nehmen daran teil. Für die Künstler ist das ein Findungsort – sie schärfen, was sie wollen, auch in der Begegnung mit den Schülern.
Dieses Projekt, das schon unter Matthias Lilienthal begann, will Annemie Vanackere auf jeden Fall fortsetzen und ausbauen. Offenheit, das hat sie schon in Rotterdam erfahren, ist wichtig für die Lebendigkeit eines Theaters. Sie bringt mit anderen Sprachen als denen der Kunst in Berührung und mit der Lebenswirklichkeit gleich vor der Haustür. Mit ihr beginnt die Korrektur an der Trennung der Milieus, die Arbeit daran, jene mitzunehmen, die sich ausgeschlossen fühlen könnten.