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Unbekannte Perlen

Das Festival Unknown Pleasures hält auch in seiner neunten Ausgabe das Berliner Publikum in Sachen US-Independentfilms auf dem Laufenden

Von Fabian Tietke

Während eines Besuchs im Miller House, einem der architektonischen Meilensteine in Columbus, Indiana, bricht Jins Vater plötzlich zusammen. Mit einem Mal sitzt der junge Mann in der Kleinstadt fest und muss sich entscheiden, wie er sich zu seinem Vater verhält, wo beide sich doch nie viel zu sagen hatten. Die junge Casey jobbt in der Bibliothek von Columbus und kümmert sich um ihre ehemals Crystal-Meth-abhängige Mutter. Aus Sorge um ihre Mutter wagt sie nicht, ihren Traum zu verwirklichen und die Stadt zu verlassen, um Architektur zu studieren. Die beiden treffen sich auf der Straße und fangen an, die Stadt und ihre Gebäude auf Spaziergängen zu erkunden.

„Columbus“ ist das Spielfilmdebüt des ehemaligen Filmkritikers Kogonada und wurde in den USA im letzten Jahr zum Überraschungshit. Dank des von Hannes Brühwiler und Andrew Grant kuratierten Festivals Unknown Pleasures gibt es nun endlich auch in Berlin die Möglichkeit, sich von dieser und weiteren Perlen des US-Independentfilms begeistern zu lassen. Ein auffällig wiederkehrendes Thema der Filme der neunten Ausgabe des Festivals, die am Freitag beginnt, sind Familiengeschichten.

Eine Villa am Strand. Eine alte Frau und ein etwa vierzigjähriger Mann sitzen sich gegenüber. Während die Hautfarbe der Frau in die gedeckten Farbtöne der Innenausstattung überzugehen scheint, setzt sich der Mann in seiner Agilität deutlich von ihr ab. Das Gespräch irritiert: Während es zunächst darum geht, dass die an Alzheimer erkrankte Marjorie (so der Name der Frau) noch nichts gegessen hat, sprechen die beiden bald schon über ihren verstorbenen Hund und ihre gemeinsamen Kinder. Walter, der Ehemann, ist ein Hologramm von Marjories längst verstorbenem Ehemann. Marjories Tochter und deren Mann nutzen es zur Betreuung und Unterhaltung von Marjorie. Doch vor allem der Schwiegersohn sitzt gern nachts mit dem Androiden und nutzt ihn als Gesprächspartner und um in Erinnerungen zu schwelgen. Dann stirbt Marjorie und ihre Tochter lässt auch sie als Hologramm wiederaufleben. Michael Almereyda hat in „Marjorie Prime“ einen klugen, nüchternen Science-Fiction-Film über künstliche Unsterblichkeit und die scheinbare Untrüglichkeit der Erinnerung gedreht.

Als Regisseur Jonathan Dem­me im April des letzten Jahres starb, wurde in Deutschland, wenn überhaupt, sein bekanntester Film, „Das Schweigen der Lämmer“, als Referenz dafür genannt, wer hier gestorben ist. Hinter diesem Film verschwand zu Unrecht ein Lebenswerk als Filmemacher zwischen Independentfilm und großen Spielfilmen. Als Hommage an Demme läuft im Rahmen von Unknown Pleasures dessen Dokumentarfilm „Cousin Bobbie“ von 1992. Demme porträtiert darin die beharrliche militante Arbeit seines Cousins Robert Castle, der sich über Jahrzehnte gegen alle Widerstände als Pastor dem Kampf gegen den Rassismus verschrieben hat. „Cousin Bobbie“ ist Familienporträt und politisches Statement zugleich.

Diesen Film mit über 25 Jahren Abstand erneut im Kino zu sehen, ist mehr als lohnend. Der Ausflug ins Neuköllner Kino Wolf wird mit der Entdeckung einer oft übersehenen Traditionslinie radikaler Politik und politischen Filmemachens in den USA belohnt.

Wer diese Traditionslinie in die Gegenwart fortführt, landet beinahe unweigerlich bei Travis Wilkersons „Did You Wonder Who Fired the Gun?“. Wilkersons Film ist eine kraftvolle Abrechnung mit seinem Urgroßvater, der in den 1940er Jahren in Alabama zwei Morde beging, ohne dafür belangt zu werden. Wilkerson rekonstruiert in Gesprächen mit dem noch lebenden Teil seiner Familie so gut es geht die konkreten Ereignisse, vor allem aber lässt er gespenstisch nahe das Klima der Straflosigkeit weißer Rassisten wiederaufleben. Wilkersons Film mag wie eine historische Rekonstruktion wirken, doch die Begegnungen auf dieser Spurensuche machen unmissverständlich deutlich, dass diese Vergangenheit noch sehr präsent ist. Ein erschütternd gegenwärtiger Ausflug in die Geschichte.

Die unbekannten Vergnügen des Festivaltitels mögen wie im Falle Wilkersons nicht immer ein reines Vergnügen sein, doch auch in der neunten Ausgabe bleibt das Festival Unknown Pleasures eine einzigartige Gelegenheit, um bei der reichen Produktion von Independentfilmen in den USA halbwegs auf dem Laufenden zu bleiben. Eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Unknown Pleasures #9, Kino Arsenal/Kino Wolf, 12.–28. 1.

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