: Der Schriftsteller als Orakel
Aufklärung über alles: Auf dem Internationalen Literaturfest in Berlin wird das Vorrecht von Fiktion und Literatur, etwas anderes zu sein als journalistische Welterklärung, zu oft beiseite geschoben
VON ANNE KRAUME
Warum eigentlich sollen Schriftsteller eine in irgendeiner Weise fundiertere Meinung über die Zeitläufte haben als ihre nicht schreibenden Mitmenschen? Warum eigentlich, überlegt man spätestens während der Diskussion nach der Lesung, erwartet der Besucher ausgerechnet vom Schriftsteller Antworten auf seine Fragen nach dem Sinn der Geschichte, der Rolle des Westens und der persönlichen Verantwortung? Warum wird immer wieder in einem Kontext um Aufklärung gebeten, der sich dafür eigentlich kaum eignet?
Ismail Kadare ist albanischer Schriftsteller und sicherer Anwärter auf den Nobelpreis. Das zumindest deutet der Moderator Beqë Cufaj an, als er Kadares Lesung im Rahmen des diesjährigen Internationalen Literaturfestivals Berlin einleitet. Kadare liest aus seinem Roman „Das verflixte Jahr“, wobei unklar bleibt, worum es darin im Einzelnen geht – um Albanien und seine Geschichte, so viel ist sicher, von einem Kometen ist die Rede und von umkämpften Städten und läutenden Glocken, und es tritt eine Reihe von Personen auf, deren Namen in der Erinnerung verschwimmen.
Ist auch egal, denn der Roman bietet für Moderator und Publikum allenfalls den Anlass, sich mal wieder in Ruhe über den Balkan zu unterhalten. Zumindest am Anfang versucht Ismail Kadare noch nach Kräften, dagegen seine Sicht von der Literatur ins Feld zu führen, der zufolge der Schriftsteller eben nicht ein Orakel sei, das den jeweils besonderen Gang der Weltgeschichte vorhersagt, sondern jemand, der sich ganz einfach mit den Dingen des menschlichen Lebens befasst – und die folgten nun einmal von den griechischen Tragödien bis heute bestimmten Verlaufsformen. Sein Versuch geht aber angesichts des Interesses des Publikums ins Leere.
Dass das so ist, mag auch etwas mit der wenig spezifischen Ausrichtung des Literaturfestivals selbst zu tun haben, das in diesen spätsommerlichen Tagen zum fünften Mal stattfindet: Es gibt wie in den vergangenen Jahren Lesungen, Diskussionsveranstaltungen und Vorträge in großer Zahl, aber ohne besonderen Zusammenhang. Garniert wird das Ganze mit zusätzlichen Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche, mit Musik und Filmen sowie einem breiten Rahmenprogramm, das etwa literarische Stadtspaziergänge oder Lesungen auf Friedhöfen und in Gefängnissen bietet.
Wenn dieses Programm in den letzten beiden Jahren jeweils etwa 30.000 Besucher angezogen hat, dann kann man davon ausgehen, dass das nicht zuletzt an seiner Offenheit und Breite gelegen hat. Darüber hinaus mögen aber die Gründe für die „Zweckentfremdung“ der Literatur, wie man sie in der Lesung von Ismail Kadare beobachten konnte, auch in der bewussten Nähe des Berliner Festivals zum politischen Bekenntnis liegen.
Die Suche nach diesem Bekenntnis allerdings fällt unterschiedlich sinnvoll aus. Als das Literaturfestival am Tag vor Kadares Lesung eröffnet worden war, da hatte Carlos Fuentes eine kluge Rede zum Lob des Romans gehalten, in der auch er auf „die tiefere Natur des Politischen in der Literatur“ zu sprechen gekommen war: Deren Bezugspunkt müsse die Gemeinschaft der Bürger sein. Aber bei ihm ging dieser Erkenntnis eine Passage voraus, in der er über die Ambivalenz, die Ungewissheit und die Doppelsinnigkeit der Literatur gesprochen und in der er diese Doppelsinnigkeit als ein Vorrecht für die Literatur eingefordert hatte, das diese von der Ideologie und den Zwängen der Logik grundsätzlich trenne.
Von diesem Vorrecht der Literatur ist bei der Diskussion mit Ismail Kadare nichts zu spüren, und das scheint zur Halbzeit des diesjährigen Festivals in gewisser Weise symptomatisch zu sein. Immer wieder, das konnte man in den vergangenen Tagen feststellen, dienen Autoren und Autorinnen allenfalls als Repräsentanten für einen Ausschnitt von Welt, der dem Publikum oft nicht aus eigener Anschauung bekannt ist und der sich darum in der Person des Autors anschaulich vermitteln lässt. Die Literatur gerät darüber entweder ins Hintertreffen, wie bei Ismail Kadare, oder sie wird zu Tode erklärt, wie im Falle von Philip Jeyaretnam aus Singapur.
Der erzählt in seinem Roman „Abrahams Versprechen“ von einem alternden Lateinlehrer in Singapur und reflektiert mit dessen persönlicher Geschichte zugleich auch die der jungen Nation, in der sein Protagonist lebt. Hier sind es die langen Zusammenfassungen und Inhaltsangaben, die der Moderator Sven Arnold seinen Fragen vorschaltet, die den Dialog mit dem Autor in einer Weise retardieren, dass er beinahe zum Erliegen kommt.
Dabei hätte Philip Jeyaretnam durchaus eine Menge interessanter Dinge zu sagen gehabt – über den Typus des Singapurer Intellektuellen, den er mit seinem Lateinlehrer dargestellt hat; über dessen Gefühl, sein Leben auf ein Versprechen hin ausgerichtet zu haben, das dann niemals erfüllt worden ist; über die Tatsache, dass dieses Gefühl offensichtlich sehr typisch für eine bestimmte Generation in Singapur ist. Vor allem aber auch über die Fähigkeit der Literatur, sich und den Lesern mit den Mitteln der Fiktion auszumalen, welche anderen Wege an bestimmten Wegkreuzungen auch hätten eingeschlagen werden können.
Obwohl es so verlangsamt daherkommt, wird in diesem Gespräch deutlich, dass die Literatur selbst dem aufklärerischen Anspruch durchaus gerecht werden könnte, den der Intendant der Berliner Festspiele, Joachim Sartorius, bei der Eröffnungsveranstaltung formuliert hatte. Das Literaturfestival könne, so meint Sartorius, womöglich an die Tradition eines kämpferischen Theaters anknüpfen, das „der Wirkung des Wortes vertraut“. Ein solches Theater habe von jeher seinen Platz im Haus der Berliner Festspiele gehabt, in dem auch das Festival inzwischen eine feste Heimat bekommen hat.
Nach den Lesungen von Ismail Kadare und Philip Jeyaretnam drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass der aufklärerische Anspruch aufklärerisch vor allem um seiner selbst willen ist. Aber letzten Endes: Geht es denn wirklich um Aufklärung? In seiner Eröffnungsrede hatte Ulrich Schreiber, Leiter des Programms, auf den besonderen Grad an „Welterfahrung“ hingewiesen, der das Literaturfestival so reich gemacht habe und auf den man auch in diesem Jahr wieder setze. „Welterfahrung“, das sind für Schreiber persönliche Begegnungen ebenso wie Freundschaften, die geschlossen, und Liebesbeziehungen, die eingegangen wurden. Insofern ist natürlich auch jede denkbare Diskussion mit einem Schriftsteller Welterfahrung und also Bereicherung.
Das Internationale Literaturfestival geht bis zum 17. September 2005, Programm unter www.literaturfestival.com