berliner szenen: Doch fast schön, das Böllern
Ein Mann klopft auf dem Kneipentisch, sagt „Verdammte Scheiße!“ und lacht, sein ebenso betrunkener Kumpel lacht mit. Sie diskutieren aber weiter: „Der Opa da ist doch Stalinist.“ – „Nein, doch, oh!.“ Sekt wird verteilt, drei Minuten noch. „I love you, happy New Year“, sagt eine Frau ins Handy. „Noch nicht“, flüstert ihr jemand zu.
Um null Uhr sind alle am Boddinplatz. Es kracht, und es leuchtet überall rot und grün und silbern, die Schatten der Bäume sieht man auf den Fassaden, eine Gruppe auf einem Balkon malt Lichterkreise mit Wunderkerzen, „Ihr Pippis“, ruft ein Stammgast in ihre Richtung.
Der stalinistischen Opa trinkt Orangensaft und guckt sich die Feuerwerke an, die Nachbarn werfen Böller, als wollen sie altes Zeug aus ihren Taschen loswerden, ich fotografiere.
Ich wollte verreisen und bin doch in Berlin stecken geblieben. Ich mag die Stimmung der Silvesternacht in der Stadt nicht, ich hasse Böller.
Noch am Nachmittag spazierte ein Mann mit Schusspistole in der Hand herum, schoss ab und zu in alle Richtungen, als glaubte er sich in einem Gangsterfilm. Am Abend, als es definitiv zu spät war zu fliehen, entschied ich, mich damit abzufinden, und nahm meinen Fotoapparat mit. Ich schieße dann zurück, dachte ich und fühlte mich von meiner Mission geschützt, als wäre ich Kriegsreporterin oder so was.
Später in der Kneipe, nachdem wir die Zukunft mit Wachs gelesen haben, muss ich zugeben, dass es doch fast schön war, das mit den Böller. Ich sollte es selbst ausprobieren, schlägt jemand vor. Vielleicht nächstes Jahr, Vorsätze habe ich sowieso noch keine. Lieber würde ich altes Geschirr oder Möbel aus dem Fenster schmeißen, wie es in anderen Länder am 31. Dezember gemacht wird. Aber das ist Geschmackssache. Hauptsache, es kracht.
Luciana Ferrando
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