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Ein Kraut von nationalem Interesse

Kein Gericht ist so stark mit der Identität Koreas verknüpft wie Kimchi. Vor dem Winter gärt der Kohl in Terrakottatöpfen und entwickelt seinen intensiv scharf-sauren Hautgout. Und wehe, er fehlt mal bei Tisch

Aus Seoul Fabian Kretschmer

Zweifelsohne sind die Südkoreaner in jüngster Zeit überaus krisengeplagt. Da wäre die korrupte Präsidentin Park Geun Hye, die nach monatelangen Protesten aus dem Amt gejagt wurde. Oder im Norden der ständig zündelnde Diktator Kim Jong Un, der alle paar Wochen damit droht, die 10-Millionen-Einwohner-Metropole Seoul in ein Flammenmeer zu verwandeln. Im Alltag jedoch sind die Koreaner derzeit erstaunlich gelassen, vielleicht auch weil sie aufgrund der jüngeren Geschichte turbulente Umbrüche gewohnt sind. Im Jahr 2010 war das jedoch anders; damals herrschte tatsächlich Ausnahmezustand, ausgelöst allein durch ein Gemüse beziehungsweise dessen ­Knappheit: Die Kimchi-Krise war der schwerwiegendste Engpass der letzten Jahre.

Doch von Anfang an: Kimchi, das ist so etwas wie die kulinarische Identität der koreanischen Halbinsel. Zu jeder, wirklich ausnahmslos jeder Mahlzeit wird der fermentierte Kohl als Beilage serviert – und zudem auch mit Reis gebraten, mit Tofu in Suppe eingelegt oder in Teigtaschen gefüllt. Meist ist Chinakohl die Grundlage, aber auch aus anderen Kohlsorten, Rettich und Gurken wird Kimchi gemacht. Das saure Gemüse ist reich an Vitaminen, Mineralien und Ballaststoffen, die ersten Rezepte gehen bis in das 13. Jahrhundert zurück. Ehrensache, dass die meisten Familien Kimchi selbst zubereiten, vor allem wenn der Winter bevorsteht. Kimjang, die traditionelle Saison für die Kimchi-Zubereitung, wurde 2013 in die Unesco-Liste für immaterielles Kulturerbe aufgenommen.

Vor sieben Jahren jedoch führte eine ausgesprochen schlechte Ernte zu einem rasanten Anstieg der Preise für Kimchi-Gemüse. Hastige Vorratskäufe feuerten die jährliche Inflation des Kohlpreises auf rekordverdächtige 400 Prozent an. Restaurants boten Kimchi nicht mehr gratis als ­Beilage an, die großen Tageszeitungen überboten sich mit hysterischen Titelseiten und riefen den nationalen Notstand aus. Schließlich schritt der damalige Präsident Lee Myung Bak ein und lockerte die Einfuhrbeschränkungen für das rar gewordene Gemüse. In ihrem Nationalstolz ­gekränkt, mussten sich viele Koreaner das Gemüse für ihr Kraut wohl oder übel aus China importieren lassen.

Seoyoung Jung hat bereits als Kind gelernt, Kimchi zuzubereiten. Die gelernte Köchin wuchs in einer kleinen Ortschaft in Gangwon auf. Die Provinz im Osten der Halbinsel ist für ihre bergige Abgeschiedenheit und ihre konservativen Bewohner bekannt. Jeden November, erinnert sich Jung, sei die ganze Familie im Innenhof des Hauses für die Prozedur zusammengekommen, die sich über eine Woche hinzog. Erst werden die Kohlköpfe, insgesamt 60 Stück, gründlich für einige Tage in Salzwasser eingelegt. Dann werden sie klein geschnitten und mit Fischsoße, Knoblauch, Ingwer, Schalotten und Chilischoten vermengt. Das junge Kimchi wird in Terrakottatöpfe gefüllt und im Garten vergraben. Dort gärt es für die kommenden Wochen, bis der Frost einsetzt.

An diesem schon eisig kalten Herbstabend besucht die Köchin ihren Lieblingsmarkt in Mangwon, im Westen von Seoul. In einer engen Gasse bieten Dutzende Händler Krabben, Austern und Muscheln an – alles Zutaten, die auch für Kimchi verwendet werden können. „Insgesamt gibt es über 300 Kimchisorten, jede Region hat ihr eigenes Rezept“, sagt Seoyoung Kim: „In Nordkorea ist es erfrischend und mild, im Süden wesentlich salziger.“

In den Neunzigern hat die Südkoreanerin ihre kulinarische Leidenschaft entdeckt, während sie ein Jahr lang bei einer Gastfamilie in England wohnte. Doch als sie dort ebenfalls Kimchi einlegte, wurde sie von ihren Bekannten wegen des ­exotischen Geruchs nur argwöhnisch beäugt. Längst aber hat sich die Wahrnehmung von Kimchi gewandelt. Wenn Seoyoung Kim mit ihrer Firma Bburi Kitchen Kochabende veranstaltet, sind die meisten Besucher Ausländer, die authentische koreanische Gerichte entdecken wollen.

Am Aufstieg von Kimchi lässt sich auch die jüngere Geschichte des Landes ablesen: Lange Jahrzehnte versuchten die Koreaner geradezu, ihr Kimchi vor ausländischen Besuchern zu verstecken; sie wollten ihnen den beißenden Geruch nicht zumuten. Seit einigen Jahren jedoch wird Kimchi mit Regierungsgeldern öffentlichkeitswirksam propagiert. Die Strategie scheint aufzugehen: Im Jahr 2016 hat Südkorea über 490 Tonnen Kimchi exportiert.

Im Jahr 2010 herrschte tatsächlich der Ausnahmezustand in Südkorea. Die Kimchi-Krise war die schlimmste Notsituation der letzten Jahre

Der Wendepunkt kam mit den Olympischen Spielen 1988, als sich das Land am Han-Fluss nach Jahrzehnten der Armut als wirtschaftlich aufstrebende Hightechnation vor der Weltöffentlichkeit präsentierte. Das neu gewonnene Selbstbewusstsein wurde nicht zuletzt durch Kimchi symbolisiert. Das Land wollte nun auch kulinarisch mit seinen weitaus bekannteren Nachbarn China und Japan gleichziehen. Also gründete die Regierung mehrere Kimchi-Forschungsinstitute, die im Monatstakt pseudowissenschaftliche Studien über die gesundheitlichen Vorzüge des scharf-sauren Nationalgerichts publizieren. Es soll Krebs vorbeugen, Stress reduzieren und das Immunsystem stärken. Auch dass die Koreaner von der Sars-Grippe weitgehend verschont blieben, schrieben einige Forscher den bakteriellen Mikroorganismen von Kimchi zu – ohne das aber wissenschaftlich belegen zu können. Und als Michelle Obama auf ihrem Twitter-Account ein Kimchi-Rezept postete, füllte das die Titelseiten.

Wer die Kimchi-Obsession der Koreaner erleben will, sollte in die Fußgängerzone Insa-dong im Seouler Stadtzentrum gehen. Dort befindet sich das erste Kimchi-Museum des Landes, das bereits 1986 gegründet wurde und sich dem fermentierten Gemüse mit einer solchen propagandistischen Hingabe widmet, dass Besucher ins Zweifeln geraten, ob sie sich tatsächlich im kapitalistischen Teil der zwei Koreas befinden. Ein Ausstellungsraum ist ausschließlich mit Fotos bestückt, auf denen Ausländer glücklich lächelnd eine Portion Kimchi in die Kamera halten – als Beleg für die „Globalisierung“ der koreanischen Küche.

An diesem Vormittag ist eine Kindergartengruppe im Museum zu Besuch. Alle haben weinrote Schürzen um, gleich beginnt der Kimchi-Kurs. Davor möchte die Erzieherin noch ein Gruppenfoto schießen. Nach und nach reihen sich die Kinder auf, zeigen das obligate Victory-Zeichen. „Drei, zwei, eins …“, zählt die Erzieherin. Die Kinder antworten unisono lächelnd: „Kimchiiii.“

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