: Beklemmung im Spiel
Irritierendes Singen zu verstörenden Bildern von der allgegenwärtigen Staatssicherheit: Ulrike Rufs dokumentarisches Musiktheater „Volk unter Verdacht“ im Radialsystem
Von Katja Kollmann
Zwei Telefonzellen, ein Hauseingang, die Weltzeituhr am Alexanderplatz. Die Sekunden laufen unerbittlich, und das Datum erzählt von einem ganz normalen Tag in den achtziger Jahren. Ein eingefrorener DDR-Ausschnitt. Die Musikerin, Stückeschreiberin und Regisseurin Ulrike Ruf hat in der Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (BStU) verstörende Bilder gefunden und zeigt sie im Rahmen des dokumentarischen Musiktheaters „Volk unter Verdacht“.
Die Aufnahmen der Stasi-Überwachungskameras werden auf drei Leinwände projiziert. Diese sind auf der Bühne des Radialsystems so platziert, dass sie mit den Zuschauerreihen als vierter Wand einen geschlossenen Raum bilden. Die Mitglieder des Vocalconsort Berlin unterlegen diese sehr speziellen historischen „Filme“ mit einem irritierenden Klangteppich. In graubrauner Alltagskleidung hasten die SängerInnen zwischen den Leinwänden umher und werden von der Übermacht der Bilder nahezu erdrückt.
Dann ist die Bühne leer, es ist dunkel, und zu hören sind Tonmitschnitte der Stasi. Jemand erzählt einen politischen Witz, zwei Frauen unterhalten sich über eine Arbeitskollegin. Und dann fällt ein Satz, bei dem die Stasi aufgemerkt haben wird: „Wissen Sie schon, wann Sie es machen wollen?“ Könnte sich um die Planung von Republikflucht handeln. Das ist in der DDR ein offizieller Straftatbestand. Dann Laute der Verzückung. Sex. Aufgezeichnet von der Stasi. Man möchte weghören. Möchte sich 27 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht mal für kurze Zeit gemeinmachen mit denen, die damals am liebsten ein ganzes Volk bis ins Innerste durchleuchtet hätten.
Beklemmung wechselt ab mit Widerwillen. Diese Aufnahmen, nun in einen künstlerischen Kontext gestellt, behaupten sich in grausamer Weise auf der Bühne. Die SängerInnen rezitieren Gedichte aus den „Vernehmungsprotokollen“ von Jürgen Fuchs. Der Schriftsteller und Psychologe hat sie 1977 während seiner Haft im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen mit seinen Fingern auf den Zellentisch geschrieben und so im Gedächtnis verankert. In Westberlin kann er sie aufs Papier bringen. Es sind Worte eines Menschen, der sich der Stasi entzieht: „dort ist ein Weg / ich gehe / ich winke / keiner kommandiert mich / wenn ich innen lebe / ganz innen.“
Ulrike Ruf lässt die Gedichtzeilen von unterschiedlichen SängerInnen sprechen. Der Ton ist gediegen. So vorgetragen, kommen die Worte aber nicht an gegen das dokumentarische Material. Sie schaffen leider keinen eigenen Raum neben dem der allumfassenden Stasi. So erzählt „Volk unter Verdacht“ viel über die Täter, aber wenig über die Widerstandskraft der Opfer.
Darüber erfährt man einiges, wenn man Roland Jahn, ehemaliger Weggefährte von Jürgen Fuchs und heutiger Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, zuhört. Oder Lilo Fuchs, der Witwe von Jürgen Fuchs. Gemeinsam sitzen sie mit Hubertus Knabe, dem Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen, und seinem Stellvertreter Helmuth Frauendorfer am Donnerstagabend anlässlich der Premiere von „Volk unter Verdacht“ im Radialsystem auf dem Podium und erinnern sich an den Schriftsteller. Sie zeichnen das Bild eines Menschen, der als junger Mann den Widerspruch zwischen der Selbstdarstellung seines Staates und der Wirklichkeit nicht mehr ignorieren kann und sich dadurch politisiert.
Im Zuge der Freundschaft mit dem viel älteren Robert Havemann und mit dessen Widerstand im Dritten Reich als Vorbild fasst er den Mut zur Auflehnung. Im Stasi-Gefängnis verweigert er über Wochen konsequent die Aussage und weist seinem sonst omnipotenten Vernehmer damit eine Ohnmachtsposition zu. Nach seiner Entlassung in die BRD bleibt er in dem für ehemalige Stasi-Häftlinge sehr gefährlichen Westberlin und sorgt dafür, dass seine „Vernehmungsprotokolle“ in die DDR geschmuggelt werden. Roland Jahn erzählt, wie ihn diese Lektüre auf die Stasi-Haft vorbereitet und während der Haft – wenn er die Gedichte rezitierte – gestärkt habe.
Während der Vorstellung erfährt man, dass die Vernehmung von Jürgen Fuchs am 13. Januar 1977 um 21.10 Uhr begann und um 4.30 Uhr endete. Die Stimme des Vernehmers klingt betont jovial. Er möchte den Flugblattverteiler zu einer Aussage zwingen. Der aber schweigt. Man hört nur den Stasi-Offizier, verfolgt die Transkribierung seiner Worte auf der Leinwand, und schon diese fünfzehn Minuten Stasi-Verhör kommen einem unendlich vor. Dem realen Bedrohungsrahmen entzogen, bleibt der in Dauerschleife vorgetragenen Aufforderung zum Geständnis eine beklemmende Wirkung erhalten, zugleich wirken die Worte seltsam kraftlos.
Jürgen Fuchs übrigens starb 1999 mit 48 Jahren an Leukämie, ausgelöst wahrscheinlich durch eine bewusste Gammaverstrahlung im Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen.
„Volk unter Verdacht“ im Radialsystem, Holzmarktstr. 33. Sa., 20 Uhr, So., 18 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen