piwik no script img

Einen richtigen Elefanten sehen

Puppen tragen Geschichten weiter, gestickt auf ihr Kleid: eine Idee von Melina und Marianne Moussalli, syrischlibanesische Künstlerinnen und Schwestern

Von Tom Mustroph

Fische schwimmen auf einem Kleid, ein Elefant, ein Flugzeug, ein Haus und sich umarmende Menschen sind mit feinen Stichen auf Kleider gestickt. Eingehüllt darin sind etwa 30 Zentimeter große Puppen mit schwarzem Schopf, rotem Mund und rot gefärbten Wangen. Die Puppen bilden die „Ana Collection“ und wurden von Marianne und Melina Moussalli gestaltet.

Beide stammen aus dem syrischen Aleppo, gingen für ihre Kunststudien aber bereits 2003 und 2005 ins Ausland. „Wir haben überlegt, was wir für syrische Mütter tun können, und sind so auf die Idee mit den Puppen gekommen“, erzählt Marianne im kleinen Jugendkunststudio L’Atelier, das die Schwestern im Beiruter Vorort Hazmiyeh betreiben. „Unsere Tante lebt weiterhin in Aleppo, sie hilft dort 800 Familien, die aus anderen Regionen des Landes vertrieben wurden. Sie übermittelt uns die Geschichten. Und wir machen daraus ein Bild“, erklärt sie weiter.

Die Geschichten erzählen von den Entbehrungen, der Not, dem Verlust. Das ist das Narrativ des Krieges. Sie erzählen aber auch, und darauf legen die Moussalli-Schwestern großen Wert, von den Hoffnungen und Träumen. In dem kleinen Kärtchen, das der Puppe mit dem Elefanten beigefügt ist, erzählt Hajar etwa von der Flucht, dem Leben in einer Notunterkunft in Aleppo und der Abhängigkeit von den internationalen Hilfsorganisationen. Sie stellt aber auch ihre Tochter Zahida vor, die Tiere liebt, und davon träumt, eines Tages einen richtigen Elefanten zu sehen. „Ein anderer Junge träumt davon, eines Tages Astronaut zu werden. Für ihn haben wir ein Flugzeug entworfen“, erzählt Marianne. Und ihre Schwester Melina greift eine Puppe heraus, die einen Jungen und ein Mädchen als Hochzeitspaar zeigt. „Salma ist 5 Jahre alt, und trotz Krieg, trotz allem, was er erlebt hat, träumt er davon, eines Tages verheiratet zu sein und selbst Kinder, Familie, ein Haus zu haben“, erläutert sie.

„Uns geht es nicht darum, die Leute zum Weinen zu bringen. Wir wollen viel lieber zeigen, dass die Kinder in Syrien Kinder wie überall auf der Welt sind, mit ähnlichen Träumen, ähnlichen Hoffnungen. Wir wollen weg von dem Flüchtlingsklischee“, meint Marianne. Deshalb haben die Geschichten eine poetische Leichtigkeit. Sie sollen zugleich das fast Unmögliche schaffen: Kindern anderswo auf der Welt etwas vom Krieg in Syrien zu vermitteln. Die Moussalli-Schwestern stellen sich vor, wie Eltern in Europa, in den USA, in Saudi-Arabien oder im Libanon, ja selbst in Japan, wohin die Puppen bisher schon geliefert wurden, ihren Kindern die Geschichten der Kinder aus Aleppo vorlesen.

Zwischen 40 und 200 syrische Frauen, je nach Auftragslage, stellen im Schichtsystem die Puppen her

Bestickt werden die Puppen nur ein paar Kilometer entfernt vom Studio der Moussalli-Schwestern, in einer Werkstatt der von Syrern gegründeten NGO Basmeh & Zeitooneh im Flüchtlingslager Schatila. Das erlangte 1982 traurige Berühmtheit wegen des Massakers an den Palästinensern. Jetzt leben Zehntausende Syrer hier neben den Palästinensern. Zwischen 40 und 200 syrische Frauen, abhängig von der Auftragslage, stellen im Schichtsystem dort die Puppen her. „Das verschafft ihnen nicht nur ein kleines Einkommen. Es macht sie auch selbstständig. Und wir begleiten die Arbeit mit psychosozialen Workshops“, erzählt Manar, die die Frauen betreut.

Die Textilwerkstatt stellt noch viele andere Dinge her, Taschen, Schuhe, Accessoires. Vieles davon wird nach Europa vertrieben, bemerkt Manar. Sie kam selbst vor einem Jahr aus Damaskus. Weil sie helfen wollte. „Ich habe in einem Vorort von Damaskus lange Zeit Binnenflüchtlinge betreut. Ich habe die Schizophrenie zwischen dem urbanen Damaskus und dem Elend der Vororte aber nicht mehr aushalten können und musste weg“, erzählt sie. Jetzt hilft sie ihren Landsfrauen im Libanon. Auch ihre Geschichte ist eine, die aus dem üblichen Wahrnehmungsraster fällt.

An die Autorinnen und Autoren der Geschichten, die die Puppen tragen, gehen 60 Prozent der Einnahmen. „Unsere Tante verteilt unter ihnen zu gleichen Teilen das Geld, unabhängig davon, wie häufig die einzelnen Puppen verkauft wurden“, sagt Marianne Moussalli noch. Solidarität ist der Leitbegriff, und nicht die Verkaufsperformance.

www.theanacollection.org

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen