Das Verschwinden der Nacht

Überall auf der Welt werden die Nächte heller. Im globalen Durchschnitt waren es in den letzten Jahren 2,2 Prozent. Besonders in den Entwicklungsländern wird immer öfter künstliches Licht eingesetzt. Die Folgen: Das Leben gerät aus dem Takt und das Ökosystem leidet

Während es in vielen Ländern stetig heller wird, haben Teile der Erde immer noch kaum Zugang zu Elektrizität Foto: Andrzej Wojcicki/SPL/getty images

Von Ingo Arzt

Es war nicht nur ein Feldzug, als Alexander der Große mit seinem gewaltigen Heer nach Osten marschierte. Nein, der Mazedonier ließ auch forschen. Die fast vergessenen Ergebnisse beschrieb 1903 der Botaniker Hugo Bretzl.

Er entdeckte die Arbeit von Androsthenes von Thassos wieder, der den Alexanderzug begleitet und den bis in die Neuzeit einzigen Bericht über eine schlafende Pflanze verfasst hatte, den Tamarindenbaum. Dieser öffnet und schließt seine zarten Fliederblättchen täglich in vier Zyklen. Androsthenes’ Schilderung sei eine „scharfe und doch so kurz geschriebene“, begeisterte sich Bretzl über 2000 Jahre später.

Was Androsthenes nicht ahnte, war, dass er damit erste Hinweise auf ein Universalprinzip des Lebens auf der Erde fand, die circadiane Rhythmik, die innere Uhr, die sich am Licht der Sonne orientiert. Pflanzen etwa haben verschiedene Pigmente, um rotes und blaues Licht und damit den Tag-und-Nacht-Wechsel wahrzunehmen.

Was Androsthenes auch nicht ahnte, ist, dass die Menschen die Dunkelheit besiegen würden, und das ziemlich radikal. Wie sehr, das hat ein Team von Wissenschaftlern in den letzten Jahren erstmals umfassend gemessen, mithilfe eines Geräts an Bord des US-Satelliten Suo­mi, der seit 2011 eine Fülle von Daten darüber liefert, wie der Mensch die Erdoberfläche verändert. „Wir verlieren mehr und mehr die Nacht“, sagt Stu­dien­autor Christopher Kyba vom Deutschen Geoforschungszentrum Potsdam.

Von 2012 und 2016 haben er und ein internationales Team von Wissenschaftlern aufgezeichnet, wie stark der Mensch den Planeten illuminiert. Im Schnitt wird es von Jahr zu Jahr um 2,2 Prozent heller – klingt wenig, bedeutett aber, dass die Nächte in 32 Jahren bei gleichbleibendem Anstieg doppelt so hell sein werden wie heute. Bei ohnehin sehr hellen Gebieten wie den USA oder Spanien gab es in den vier Jahren kaum Veränderungen; Entwicklungsländer leuchten immer stärker, aber auch Deutschland macht die Nacht zunehmend zum Tag. Seit 3 Milliarden Jahren haben sich fast alle Lebensformen auf der Erde an den Takt von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gewöhnt, merkten die Mediziner Richard Stevens und Yong Zu 2015 in dem Fachblatt Philosophical Transactions an.

Heute, so fuhren sie fort, sitzen wir tagsüber bei zu wenig Licht in Gebäuden und sehen in der Nacht, um das wahrhafte Dunkle wahrzunehmen. Ausgerechnet die energiesparenden LEDs verschärfen das Problem, weil sie häufig mehr Blauanteile enthalten, die alles Leben als Tageslicht interpretiert. Dieses Blaulicht wird Nachts von Wolken auch wesentlich stärker reflektiert als der Rotanteil alter Straßenlaternen, was die Dunkelheit noch weiter vertreibt. Wohlgemerkt, lassen sich mit LEDs aber prinzipiell beliebige Lichtspektren erzeugen – auch solche ohne zu viel Blau.

Es wird also immer weniger Nacht und das bringt das Leben aus dem Takt. „Sie können die Körperfunktionen mit einem Konzert vergleichen. Jede Zelle hat ihren eigenen Takt, aber es braucht einen Dirigenten, damit daraus eine Symphonie entsteht“, sagt Mitautor Franz Hölker vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei.

Beim Menschen läuft der Prozess mithilfe des Proteins Melanopsin ab, das sich in einigen Zellen der Netzhaut befindet. Sie messen – ohne dass wir es optisch wahrnehmen – die Umgebungshelligkeit anhand blauen Lichts, senden die Signale an ein Gebiet im Gehirn, das sich su­pra­chias­matischer Kern nennt, Spitzname „innere Uhr“. Diese steuert, wann wir müde werden und wann wir wach sind. Bis auf die Ebene einzelner Zellen spielt die Symphonie. Viel Blaulicht gilt dem suprachiasmatischer Kern als Tag, auch wenn es Nacht ist – der Dirigent gibt unklare Signale, Zellen schalten auf Aktivmodus, statt zu relaxen und die ein oder andere Reparatur durchzuführen.

Metastudien zeigen: Unter Wissenschaftlern besteht Einigkeit darüber, dass die hellen Nächte unserer Reklametafelzivilisation Hormone, Stoffwechsel und viele andere physiologische Parameter durcheinanderbringen. Die Mediziner Stevens und Zhu argumentierten 2015, dass es „plausibel“ sei, dass dadurch auch schwere Krankheiten entstünden. Ein Beweis liege aber erst bei umfassenden epidemiologischen Studien vor. So hält die Internationale Agentur für Krebsforschung Schichtarbeit für „wahrscheinlich krebserregend“, weil sie den Tag-Nacht-Rhythmus stört.

Studienautor Franz Hölker achtet aufgrund seiner Forschungen auf das richtige Licht in seiner Wohnung. „Ich will abends keine Blaulichterfahrung machen und dem Körper nicht vermitteln, dass jetzt Tag ist“, sagt er. Er forscht daran, was Licht mit dem Ökosystem macht. „Einige Wissenschaftler sehen in der Zunahme von künstlichem Licht eine neue Gefahr für unsere Ökosysteme“, schrieben Wissenschaftler in einer kürzlich erschienenen Studie im Fachblatt Nature. Sie konnten nachweisen, dass nachtaktive Insekten in beleuchteten Gebieten seltener werden und weniger Pflanzen bestäuben, die wiederum weniger Früchte tragen. „Wasserinsekten sind besonders davon betroffen“, sagt Hölker. Die Einzigen, die sich freuen, sind fettgefressene Spinnen an Laternenmasten und Fledermäuse, die sich den Bauch vollschlagen. Wie stark Ökosysteme beeinträchtigt werden, sei aber noch weitgehend unerforscht, heißt es in Nature.

Auf globaler Ebene stellt sich noch ein ganz anderes Pro­blem: „Wir wissen, dass LEDs in einzelnen Projekten Energie sparen. Aber unsere Daten zeigen, dass der Effekt komplett verschwindet, weil dafür an anderer Stelle mehr und heller beleuchtet wird“, sagt Christopher Kyba. Bereits 2010 haben Wissenschaftler im Journal of Physics dazu eine erstaunliche Berechnung angestellt: Sie untersuchten, wie viel Prozent der Wirtschaftsleistung die Menschheit seit dem Jahr 1700 für Beleuchtung aufwendet – für Kerzen, Kerosinlampen, Gaslaternen, Glühbirnen und LEDs. Egal wo und wann, im Schnitt kauften Gesellschaften für 0,7 Prozent ihrer Wirtschaftskraft so viel Licht, wie sie eben bekommen. Je effizienter also die Beleuchtung wird, desto heller die Nacht – und je schneller die Wirtschaft wächst, desto mehr Licht. Rund 6 Prozent ihrer verbrauchten Energie verwendet die Menschheit für Beleuchtung.

Dass die Lichtzunahme auch eine gute Seite hat, das betrachteten die Autoren in ihrer aktuellen Arbeit allerdings nicht: Während in entwickelten Ländern Menschen über Lichtverschmutzung klagen, hat nach UN-Angaben eine Milliarde Menschen überhaupt keinen Zugang zu elektrischem Strom, die meisten davon in Subsahara-Afrika. Gerade dort aber, das zeigen die Satellitendaten der neuen Studie, leuchten die Städte und Dörfer immer stärker – für viele Menschen bedeutet das womöglich, dass sie erstmals in ihrem Leben nach Einbruch der Dunkelheit noch ein Buch lesen können. „In den Industrieländern wächst die Beleuchtung aber auch mit. Wir sehen mir Sorge, dass auch ganz unmotiviert Licht in die Nacht gestellt wird“, sagt Hölker. Deutschland liegt im globalen Mittel – hier werden die Städte nachts jedes Jahr um 2,3 Prozent heller.

Dabei lässt sich diese Entwicklung durchaus verhindern. So waren Hölker und Kyba 2015 an einer Studie beteiligt – ebenfalls mithilfe des Suomi-Satelliten –, in der sie zeigten, wo in der Welt Quellen von „Lichtabfall“ zu finden sind. Der Flughafen von Chicago leuchtet beispielsweise 4,5-mal so stark wie der Flughafen Tokio, bei der gleichen Anzahl von Passagieren. Deutschland leuchtet insgesamt deutlich weniger als die USA, bei gleichem Lebensstandard. Hölker weist darauf hin, dass eine tiefere Nacht nicht bedeutet, dass Fußgänger wieder wie im Mittelalter ängstlich durch dunkle Gassen wandeln müssen, im Gegenteil. Sind die Straßen zu hell erleuchtet, führt das dazu, dass man abseits der Wege nur tiefstes Schwarz wahrnimmt. Besser sei gedämpftes, gleichmäßiges Licht.

Vorbildlich ist übrigens ausgerechnet Berlin. Der Flughafen Tegel steht im Vergleich eher am unteren Ende der Beleuchtungsskala. Seit 2011 hat die Stadt ein Lichtkonzept: In Wohngebieten werden bevorzugt Laternen mit niedrigem Blaulichtanteil aufgestellt, Lichter in der Nähe von Gewässern werden abgeschirmt. In Slowenien gibt es sogar eine Regelung, die vorschreibt, wie viel Strom Kommunen pro Bürger maximal für öffentliche Beleuchtung verbrauchen dürfen. Zumindest dieses Land nimmt die Warnung von Kyba, Hölker und den anderen Wissenschaftlern ernst: „Künstliches Licht verschmutz die Umwelt“, schreiben sie. Ein Problem, das Hugo Bretzl freilich noch nicht kannte. Seine Beschreibung des Schlafs des Tamarindenbaums lädt unmittelbar zum Schlummern ein. „So hängt dann das ganze zierliche Blatt, das im hellen Lichte der Mittagssonne ausgebreitet war, in der Nacht schlaff herab.“