: Der Stein, der nicht flog
Künstler, Wohnungssuchende: Alle sind von Verdrängung betroffen. Im Spor Klübü initiierte Matthias Mayer dazu eine Ausstellungsserie, die mit Ingo Gerken sehr spröde endet
Von Julia Gwendolyn Schneider
Es gibt ein Loch in der Scheibe, Scherben auf dem Boden und den vermeintlichen Übeltäter zu sehen: einen Backstein. Er ist neben den Glasscherben auf dem weißen Teppichboden gelandet und zieht im leeren Ausstellungsraum den Blick auf sich. Dass es sich bei diesem Szenario im Projektraum Spor Klübü im Wedding um eine bewusste Inszenierung handelt – das Fenster wurde im Atelier per Hammer und nicht vor Ort durch einen Steinwurf zerstört –, mag im Vorbeigehen erst mal unklar bleiben.
Matthias Mayer zeigt Ingo Gerkens Installation als letzte Ausstellung innerhalb von „Changes on the fly“, einer Reihe, die sich dem „künstlerischen Umgang mit räumlichen Veränderungsprozessen in Berlin“ widmet. Gerkens Eingriff zieht die Blicke auf sich, aber Mayer möchte gar nicht so viel Aufmerksamkeit erwecken. Für die Kunst schon, aber Gerkens eingeworfene Fensterscheibe könnte von Passanten auch einfach nur als Angriff auf einen Raum verstanden werden. Daher haben Mayer und Gerken einen Kompromiss geschlossen. Zur Eröffnung war es zugig, seitdem verdeckt eine Sperrholzplatte das klaffende Loch in der Scheibe.
Protestaustausch
„Changes on the fly“ startete Ende Mai mit einem Blick auf New York City, Anfang der 1980er Jahre. Im damaligen Spekulanten-Eldorado Lower East Side eröffnete das Künstlerkollektiv Colab am 1. Januar 1980 in einem leerstehenden Ladenlokal „The Real Estate Show“ mit Werken zum Thema Immobilienspekulation. Nachdem Colab erfolglos versucht hatten, legal an den Raum zu gelangen, nahmen sie kurzerhand eine Besetzung vor. Nur einen Tag nach der Eröffnung wurde die Show von der Polizei geschlossen. Zufälligerweise war Joseph Beuys in der Stadt, bei dem ein Colab-Künstler studiert hatte, und beteiligte sich am Protest gegen die Schließung. Das mediale Aufsehen reichte bis in die New York Times.
Kurze Zeit später bekam die Gruppe tatsächlich einen Raum zugesprochen. Es entstand das ABC No Rio, ein Ort für soziale Vernetzung und künstlerische Kreativität, der bis heute existiert. Becky Howland von Colab hatte bereits 2014 in New York eine Dokumentation der Original-Show präsentiert, die sie mit Mayers Hilfe nun nach Berlin brachte.
Dem Auftakt folgte eine auf Berlin bezogene Gruppenausstellung mit über 60 Künstlern sowie vier Einzelausstellungen. Die Serie stand in einem engen Bezug zur Berliner Stadtentwicklung, von der gemeinhin bekannt ist, dass die Freiräume knapp werden, die Mieten steigen, Investoren einfallen und maximal profitieren.
Wenn Mayer von der „Real Estate Show Extended/Berlin“ spricht, ist es ihm wichtig herauszustellen, dass sich unter den Werken zum Beispiel auch ein Projekt zur angespannten Lage des Berliner Wohnungsmarkts befand. Pia Lanzingers 2014 begonnenes Gentrifizierungsspiel „Würfeln um Berlin“ ist ein überdimensionales Brettspiel für öffentliche Plätze. Das Spiel, das schon in Moabit, Neukölln, Hellersdorf und Kreuzberg mit Kreidefeldern auf den Boden gemalt wurde, widmet sich der Gentrifizierungsthematik mit politischer Weitsicht und bindet die lokale Bevölkerung mit ein.
Bezeichnenderweise ist auch Gerkens minimale Inszenierung vor dem Hintergrund einer konkreten räumlichen Veränderung entstanden, die unmittelbarer gar nicht sein könnte. Der Backstein im Ausstellungsraum bildet eine Brücke zu einem Trümmer- und Erdfeld, das nur ein Haus weiter liegt. Der Stein stammt aus einem ehemaligen gewerblich-industriell genutzten Gebäudekomplex, dessen Abriss sich zufällig während der Zeit der Ausstellungsserie ereignete. Bisher ist unklar, was auf dem leergeräumten Grundstück entstehen wird.
Gerken zeigt ein metaphorisches Bild für eine Gemengelage, die beim Anblick der frisch erzeugten Baulücke die Spekulationen ins Rollen bringt. Mit dem weißen Teppich spielt der Künstler auf mögliche Aufwertungsprozesse an, die auch Projekträume anstoßen können, meistens aber erst durch private Spekulanten zu einer ausufernden Verdrängungswelle werden, der oftmals auch die freie Kunstszene weichen muss. Geschickt lässt Gerken die Alarmglocken läuten und stellt visuell den Gentrifizierungsprozess zwischen Aufwerten und Zerstören gleichermaßen dar. Der Raum ist nicht nur schick, per Steinwurf wird die Gegenreaktion gleich mitgeliefert.
In die aggressive Stimmungslage schleicht sich aber noch eine ganz andere Ästhetik ein: Die glänzenden Scherben und der moosbedeckte Stein lassen an die meditative Ruhe eines japanischen Zen-Gartens denken.
Ingo Gerken, „Stein der Weisen“. Spor Klübü, Freienwalder Straße 31, bis 9. 12. (Mi.–Sa., 15–18 Uhr)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen